Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
print

Links und Funktionen
Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Forschungsprojekt: Konversion im Kollektiv. Die orthodoxe Bewegung in der Karpatenukraine, 1918-1938.

Das Projekt beschäftigt sich mit Konversionen zur Orthodoxie in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Die orthodoxe Mission hatte zwei Zentren, eines in den böhmischen Ländern und ein weiteres bei den mit Rom unierten („griechisch-katholischen“) Russinen in der Karpatenukraine und in der Ostslowakei. Im Projekt geht es vor allem um die russinische Konversionsbewegung, die mit etwa 120.000 Anhängern weitaus größer als die tschechische war. Ziel ist, Motive, Verlauf und vor allem die Folgen der Glaubensübertritte aufzuzeigen und dabei gängige religionssoziologische Konzepte zu überprüfen.

In der soziologischen Literatur wird Konversion üblicherweise als bewusste Entscheidung des Einzelnen und tiefer biographischer Einschnitt im Leben des Individuums betrachtet. Zwar werden Konversionserzählungen heute weniger ‚für bare Münze’ genommen als in der älteren Literatur. Sie gelten nicht mehr so sehr als Beschreibung der Konversion an sich und werden eher als Mittel gesehen, mit dem die aufnehmende religiöse Gruppe ihre Identität stabilisiert. Dennoch nimmt die Soziologie beim Thema Konversion individuell-religiöse Momente sehr ernst.1

Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass bei den orthodoxen Konvertiten in der Tschechoslowakei die religiöse Ergriffenheit nur eine bescheidene Rolle spielte. Die russinischen Bauern, die den Großteil der Konvertiten stellten, betrachteten sich oft überhaupt nicht als Glaubenswechsler, sondern einfach als Menschen, die ihre ‚Unterdrücker’ los werden wollten, darunter auch den unierten Klerus, der sich schon länger in Habitus und Sprache (Magyarisierung!) von ihnen entfernt hatte und ihnen hohe Abgaben auferlegte.2

Die Russinen traten in Gruppen zur Orthodoxie über, meist aus Protest gegen den örtlichen unierten Priester, von dem man sich ausgebeutet fühlte. In ihren Eingaben an die Staatsorgane betonten sie immer wieder, man sei schon immer orthodox gewesen, nur der Klerus habe sich im 17. Jahrhundert der Union angeschlossen, um auf diese Weise im katholischen Habsburger Reich an feudale Privilegien zu kommen.

Weshalb fügen sich die orthodoxen Konvertiten der Tschechoslowakei nicht in die dominante3 soziologische Konversionstheorie? Eine mögliche Erklärung wäre, dass die religionssoziologischen Theoretiker in der Regel von einer modernen, pluralistischen Ordnung ausgehen, wenn sie über Konversion sprechen, und dass diese Ordnung in der Karpatenukraine nicht oder nur eingeschränkt gegeben war.4

Das Auftauchen von Missionaren, die eine religiöse Alternative anbieten, löst in einer relativ homogenen Bauerngesellschaft andere Reaktionen aus als in modernen Städten. In einer vor- oder halbmodernen dörflichen Welt kann es, wie sie sich etwa an freikirchlichen Aktivitäten in Serbien vor dem Zweiten Weltkrieg dokumentieren lässt, zur kollektiven Ablehnung von Missionaren kommen, die als fremdartig empfunden und eventuell sogar bei der Polizei angezeigt werden.5 Eine andere Möglichkeit ist, dass sich kleine Inseln von Außenseitern bilden, die sich durch ihre Bekehrung aber von der Mehrheitsgesellschaft isolieren. Ein Beispiel hierfür wäre die nazarenische Mission in der Vojvodina des 19. Jahrhunderts.6

Eine dritte Form, so die These des Projekts, findet sich bei den Russinen: Hier verband sich ein bislang marginalisierter, aber historisch in der Region verwurzelter Glaube mit einer sozialen Protestbewegung und erlangte dadurch Massencharakter. Typisch für die russinische Situation waren kollektive Übertritte großen Ausmaßes und konfessionelle Gräben, die oft mitten durch bislang religiös homogene Dörfer verliefen. Das Projekt macht sich zur Aufgabe, die – bislang noch kaum erforschten - Folgen eines derartigen Konversionsverlaufs für kollektive Identitäten, Wertvorstellungen und gesellschaftliche Beziehungen zu untersuchen. Eine Leitfrage wird dabei sein, ob die religiöse Zugehörigkeit unter den Russinen eher zu einer Art sozialer Trennlinie wurde, oder ob sich Anzeichen für das Entstehen separater religiöser Kulturen finden lassen.

 


 1 Ein gutes Beispiel dafür ist Detlef Pollack: Überlegungen zum Begriff und Phänomen der Konversion aus religionssoziologischer Perspektive, in: Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Systematische          Fragestellungen, in: Dies. (Hg.): Konversion und Konfession in der frühen Neuzeit, Heidelberg 2007, S. 33-55.

 2 Pavel Marek, Volodymyr Bureha: Pravoslavní v Československu v letech 1918-1953, Přispěvek k dějinám Pravoslavne církve v českých zemích, na Slovensku a na Podkarpatské Rusi, Brno 2008, S. 278f.

 3 Der wohl einflussreichste, wenn auch mittlerweile aus verschiedenen Blickwinkeln kritisierte soziologische Ansatz stammt von Rodney Stark und John Lofland: Becoming a World-Saver, A Theory of Conversion to a Deviant Perspective, in: American Sociological Review 30 (1965) 6, S. 862-875.

 4 Auf die begrenzte Anwendbarkeit gängiger soziologischer Konversionskonzepte weisen auch Historiker der Frühen Neuzeit hin. Vgl. Ute Lotz-Heumann, Jan-Friedrich Missfelder, Matthias Pohlig: Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Systematische Fragestellungen, in: Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, a.a.O., S. 11-32.

 5 Klaus Buchenau. Auf russischen Spuren, Orthodoxe Antiwestler in Serbien, 1850-1945, erscheint Ende 2010, S. 235f.

 6 Bojan Aleksov: Religious Dissent between the Modern and the National. Nazarenes in Hungary and Serbia 1850-1914, Wiesbaden 2006.