Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Dissertationsprojekt: Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782–1848

Die Arbeit widmet sich der Frage, wann Juden in Frankreich und Deutschland anfingen, den Begriff „jüdische Rasse“ zu benutzen und warum sie das taten. Während heute aufgrund der Erfahrung des nationalsozialistischen Rassenwahns und des Standes der wissenschaftlichen Forschung niemand mehr behaupten würde, die Juden seien eine Rasse, hat die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren zeigen können, dass eben jene These im Zuge des Aufstiegs der Biowissenschaften vor allem im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch von zahlreichen jüdischen Anthropologen vertreten wurde. In den entsprechenden Forschungsarbeiten ist die Vorstellung der Existenz einer „jüdischen Rasse“ vom heutigen Standpunkt der Wissenschaft aus als soziale Konstruktion bezeichnet worden. Zudem haben die bisherigen Arbeiten zeigen können, dass die Vorstellung einer „jüdischen Rasse“ für die zeitgenössische Debatte zwischen Assimilationsbefürwortern und Zionisten große Bedeutung hatte.

Stillschweigend gingen jedoch die bisher vorliegenden Publikationen davon aus, dass die Idee einer „jüdischen Rasse“ erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von Juden aufgegriffen wurde und dann stets im Rahmen anthropologischer Debatten zu finden sei. Dass der Begriff wesentlich älter ist und dass der Kontext, in dem Juden ihn zum ersten Mal gebrauchten, kein biowissenschaftlicher war, wurde bislang nicht in Betracht gezogen. Überhaupt ist festzustellen, dass die Fragen, wann, warum und in welchem zeitgeschichtlichen Rahmen der Begriff „jüdische Rasse“ aufkam, in der Forschung bislang weitgehend ignoriert wurden.

In der Arbeit soll deshalb der Begriff „jüdische Rasse“ im Kontext des Prozesses der Neujustierung jüdischer Kollektividentität nachgezeichnet werden, der mit den Debatten über die Emanzipation der Juden in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts begann und dessen weiterer Verlauf als Reaktion auf die radikalen sozialen Umwälzungen infolge der Französischen Revolution begriffen werden muss. In diesem Prozess entwickelte sich eine dezidiert jüdische Kritik am Universalismus der Aufklärung, die jedoch nicht in einen reaktionären Partikularismus mündete, sondern auf eine dialektische Versöhnung von Allgemeinheit (Nation; Menschheit) und Besonderheit (Rasse; Stamm) abzielte.

Die Aneignung des Rassebegriffs war Ausdruck eines selbstbewussten Umgangs mit der eigenen Jüdischkeit. Gerade Juden, die nicht besonders religiös waren oder gar säkularen Ideen anhingen, bot der Rekurs auf die „Rasse“ eine Möglichkeit, sich weiterhin als Juden zu definieren. Die darin zutage tretende Ethnisierung muss als komplementärer Akt zur Konfessionalisierung des Judentums betrachtet werden. Im Gegensatz zum antiken und mittelalterlichen Judentum trat in der Neuzeit die Einheit von Abstammungs- und Religionsgemeinschaft auseinander. In diesem Zusammenhang gewann auch der Rassebegriff fundamentale Bedeutung für die jüdische Identitätsbildung.