Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Dissertationsprojekt: Jüdische Selbstbilder in deutschen und jiddischen Lyrikanthologien von der Jahrhundertwende bis zur Schließung der Jüdischen Verlage (abgeschlossen)

Jüdische Herausgeber hatten bereits im 19. Jahrhundert in Europa begonnen, Texte jüdischer Thematik oder jüdischer Autoren in Sammlungen von Gedichten und Liedern zu kanonisieren. Diese Projekte standen im Kontext der Diskussion um den Begriff des Volkes und der Nation, die im 19. Jahrhundert begann und vor und während der Weltkriege eine neue Richtung nahm.

Die Herausgeber bemühten sich in den Vorworten, die Nähe der jüdischen Dichtung zu Europa und zu Deutschland nachzuweisen und behaupteten zugleich einen eigenen „jüdischen Geist“, der nicht nur dem Namen nach an romantische Traditionen anknüpfte. Sie bedienten sich kulturnationaler Konzepte in der Tradition Herders und Goethes und versuchten auf Basis der eigenen Texttraditionen eine neue jüdische Identität zu schaffen und in die Öffentlichkeit zu tragen.

Diese Neubegründung konnte nicht ohne Bezug zur alten Religion, die bisher identitätsstiftend war, stattfinden. Auch die säkulare Literatur bedarf der Schaffung von Kontinuitäten, die in die Zeit vor der jüdischen Aufklärungsbewegung Haskala nur über die von der Religion geprägten Texttraditionen hergestellt werden können. Wie genau dieses Zusammenspiel von europäischem Kultur- und Nationsbegriff mit aus religiösen Texten stammenden Motiven und Zitaten in moderner, säkularer Dichtung funktioniert, ist eine der zentralen Fragestellungen dieser Arbeit.

Von besonderem Interesse sind die Anthologien, die zwischen der Jahrhundertwende und der Schließung der jüdischen Verlagshäuser in Deutschland erschienen sind. Sie standen unter dem Eindruck des immer stärker rassistisch geprägten Antisemitismus, aber auch unter der Begegnung des westeuropäischen mit dem osteuropäischen Judentum. Umgekehrt soll die Auseinandersetzung mit jiddischsprachigen Anthologien aus der selben Zeit zeigen, inwieweit westeuropäische Vorstellungen auch auf die ostjiddische Kultur einwirkten.

Wie problematisch der Versuch ist, über die Literatur eine, wie man heute sagen würde, jüdische Mentalität zu konstituieren, zeigen die Diskussionen der Herausgeber mit den potentiellen Autoren, einige der Gedichte selbst, aber auch zeitgenössische Publikationen über das Phänomen spezifisch „jüdischer“ Literatur. Zugleich aber sind diese Anthologien ein bemerkenswerter Versuch, jenseits der antisemitischen Zuschreibungen eine auf literarischen Tradition fußende, positive Identität zu konstituieren.