Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Dissertationsprojekt: Vertrauen, Religion und Ethnizität. Die Wirtschaftsbeziehungen jüdischer Unternehmer im späten Zarenreich (abgeschlossen)

Welche Verbindungen bestehen zwischen religiösen Überzeugungen und wirtschaftlichem Handeln? Inwiefern hing die Konstituierung neuer sozialer Gruppen mit der Gründung von Reform-Synagogen zusammen? Wurden bei der Klärung von geschäftlichen Streitigkeiten weltliche oder religiöse Gerichte bevorzugt? Spielte die Religion des Gegenübers bei der Wahl von Geschäftspartnern eine Rolle?

Diese und andere Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Projekts und sollen den Weg zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Wirtschaft und Religion am Beispiel von drei jüdischen Unternehmen im Zarenreich zwischen 1855 und 1881 weisen. Dabei strukturieren zwei Ebenen die Untersuchung. Einerseits werden konkrete wirtschaftliche Handlungsweisen bezüglich ihrer Rückkopplung mit der religiösen Sphäre analysiert; andererseits steht die Erörterung von abstrakten Theorien, Konzepte und Thesen bezüglich des Wechselspiels von Religion und Ökonomie im Zentrum des zweiten Untersuchungsfelds. Auf der konkreten Ebene wird das Konzept des ethnischen Wirtschaftens und im abstrakten Bereich der Komplex der Gleichzeitigkeit von grundlegendem wirtschaftlichen Wandel und der religiösen Pluralisierung des Judentums den Kern der Betrachtung ausmachen.

Den Untersuchungszeitraum stellt die Regentschaft Zar Alexanders II. von 1855 bis 1881 dar, da sie eine Periode der fundamentalen gesellschaftlichen Veränderung darstellt und für die Erforschung der oben skizzierten Anliegen nahezu prädestiniert erscheint. Denn gerade in einem Zeitalter der Umwälzungen müssen die einzelnen Akteure ihre Positionen neu bestimmen und ihr Handeln rechtfertigen. Gleichzeitig war die wirtschaftliche Sphäre innerhalb der jüdischen Bevölkerung des Zarenreiches bereits seit dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts im Wandel begriffen, sodass die Akteure auch auf vorhergehende Entscheidungen zurückblicken konnten.

Im Zentrum der Betrachtung stehen drei jüdische Unternehmen in Łódź, Odessa und Vilnius. Auch wenn diese drei Orte aus der Perspektive des Imperiums eher an der Peripherie des Zarenreiches lagen, stellten sie dennoch für das jüdische Leben in Osteuropa zentrale Referenzpunkte dar. Jede der Städte nahm in einem Bereich eine Ausnahmestellung ein und besaß eine große Anziehungskraft: Łódź in wirtschaftlicher Hinsicht, Odessa als Kristallisationspunkt politischer und kultureller Entwicklungen und Vilnius als das religiöse Bezugszentrum vieler osteuropäischen Juden. Auch hinsichtlich ihrer ökonomischen Situation, geographischen Lage und rechtlich-administrativen Bedingungen wird die große Heterogenität der drei Orte deutlich. Dadurch können die Konsequenzen des umfassenden Wandels im 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Milieus untersucht werden und die große Diversität jüdischer Traditionen und Entwicklungen im Zarenreich deutlich gemacht werden. Die zu untersuchenden jüdischen Unternehmen sollen jeweils in der maßgeblichen lokalen Branche verankert sein. In Łódź ist dies die Textilindustrie, in Odessa der Getreidehandel und in Vilnius das Handwerk. Durch das Herausgreifen von einzelnen Betrieben werden Makro- und Mikroebene miteinander verknüpft und durch eine sinnvolle Einbettung in den jeweiligen Kontext die großen Entwicklungen im Lokalen verdeutlicht.