Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
print

Links und Funktionen
Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Propheten des Fortschritts. Die Monismusbewegung im Fin de Siècle (ca. 1900-1918)

Das Dissertationsprojekt »Propheten des Fortschritts« untersucht am Beispiel der Monismusbewegung religiös-säkulare Aushandlungsprozesse im wilhelminischen Kaiserreich. Im Januar 1906 gründete der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) den Deutschen Monistenbund (DMB), der sich in den Folgejahren zum führenden Vertreter des bürgerlichen Freidenkertums in Deutschland entwickelte. Der Monistenbund verfolgte das Ziel, eine einheitliche Weltanschauung auf naturwissenschaftlicher Basis zu verkünden. Mit ihrer wissenschaftlichen Weltanschauung grenzten sich Monisten bewusst vom christlichen Dualismus ab, der zwischen Leib und Seele, Diesseits und Jenseits unterschied. Stattdessen erhoben sie den Anspruch, die Welt durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse vollends zu erfassen. Gemeinsam mit anderen freigeistigen Vereinigungen versuchten Monisten den Einfluss von Kirche und Konservatismus im Kaiserreich zurückzudrängen und durch säkulare Angebote zu ersetzen. Das Verhältnis des Monismus zur Religion blieb dabei ambivalent: Sahen die einen im Monismus eine religiöse Erneuerungskraft, betrachteten ihn andere als Mittel zur Bekämpfung von Kirche und Christentum.

Im Zentrum des Dissertationsprojekts steht der Leipziger Chemiker und Nobelpreisträger Wilhelm Ostwald (1853-1932), der zwischen 1910 und 1915 Vorsitzender des DMB war. Ostwald begründete eine eigene Spielart des Monismus, die auf thermodynamischen Prinzipien von Energieerhaltung und Entropie beruhte: die Energetik.

Es wird argumentiert, dass Monisten (populär-)wissenschaftliche Theorien und Paradigmen nutzten, um verschiedene Säkularitätsvorstellungen und -forderungen zu legitimieren: Die im Monismus popularisierten naturwissenschaftlichen Theorien (etwa die Evolutionslehre) dienten als Mittel, um religiöse Deutungsmuster infrage zu stellen und säkulare Forderungen zu rechtfertigen. Die Forderungen der Monisten betrafen sowohl die Trennung von Staat und Kirche, als auch die Neubestimmung von Erziehung, Geschlechterrollen, Sexualmoral und Tod. Radikale Feministinnen wie Helene Stöcker kämpfen gemeinsam mit dem Monistenbund für ein neues Eheverständnis und den Schutz alleinerziehender Mütter; zeitgleich traten Monisten mit Vertretern der ethischen Bewegung für einen weltlichen Moralunterricht an Schulen ein.
Das Projekt verspricht einen neuen Blick auf das wilhelminische Kaiserreich, dessen Gesellschaft weit mehr als eine militaristische Untertanengesellschaft war. So nahmen die Themen der Monisten und anderer Freidenker einige Forderungen vorweg, die im 20. Jahrhundert debattiert und erkämpft wurden: Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper, Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Trennung von Staat und Kirche.