Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Dissertationsprojekt: Protestanten in Polen, 1918-1939: Eine Frage der Loyalität?

Dissertationsprojekt: Protestanten in Polen, 1918-1939: Eine Frage der Loyalität?

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der drei Teilungsmächte entstand mit der Zweiten Polnischen Republik nach 123 Jahren wieder ein selbständiger polnischer Staat. Dieser neue Staat war zwar mehrheitlich von einer katholischen Bevölkerung geprägt, konfessionelle Minderheiten machten aber mehr als ein Drittel seiner Einwohner aus. Rund eine Million Protestanten unterschiedlicher Muttersprache, die auch verschiedenen Kirchen angehörten, stellten eine Gruppe dieser Minderheit. Die protestantische Bevölkerung wird in der Forschungsliteratur häufig als eine homogene Gruppe behandelt, was sie jedoch keineswegs war. Eine weitere Vereinfachung prägt außerdem das Forschungsbild: Die Gleichsetzung von Deutschen und Protestanten und damit eine Nationalisierung der Konfession. Eine solche Sichtweise, die simplifizierend den Spezifika der Regionen und Traditionen nicht gerecht wird, soll mit diesem Dissertationsprojekt modifiziert werden.

Den Untersuchungsgegenstand bildet einerseits die Evangelisch-Augsburgische Kirche mit Schwerpunkt im ehemaligen Kongresspolen sowie andrerseits die Evangelische Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Polen, deren Anhänger im ehemaligen österreichischen Teilungsbereich lebten. Eine der leitenden Fragestellungen ist die nach der Loyalität dieser Gruppen. Denn die Bildung eines selbständigen polnischen Staates nach 1919 stellte viele, vor allem die deutschsprachigen Protestanten vor die Entscheidung, in ihrer Heimat zu bleiben und die neuen Herrschaftsverhältnisse hinzunehmen oder auszuwandern. Diejenigen, die im Land blieben, mussten für sich klären, welche Haltung sie gegenüber dem neuen Staat einnehmen sollten. Ich vertrete die These, dass aus den Differenzen zur Frage, inwieweit sie sich in den polnischen Staat integrieren sollten, unterschiedliche Loyalitätsbegriffe herausgelesen werden können. Die Entscheidungen „der Kirchen“ sind das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, der noch näher zu untersuchen ist und nicht die Folge essentialistisch verstandener Identitäten.

Diese Überlegungen werden exemplarisch auf Situationen angewandt, in denen der entstehende polnische Staat von seinen Bewohnern besondere Loyalitätsbeweise forderte, wobei sowohl konflikthafte Situationen wie die Verfassungsdebatte beleuchtet werden als auch solche Entwicklungen, die nicht maßgeblich von Konflikten bestimmt waren, etwa Teile der Arbeit der Inneren Mission.

Die Frage nach der Loyalität muss auch in der Gegenrichtung gestellt werden: Nicht nur der Staat erwartete Loyalität von den Kirchen, sondern die Kirchen erwarteten im Gegenzug einen einklagbaren staatlichen Beitrag, der ihnen eine zuverlässige Existenz sicherte. Durch wen sahen sie die Wahrung ihrer rechtlichen Lage und ihrer materiellen Situation im polnischen Staat als gesichert an? Auch nach der Position außen stehender, gleichsam dritter Kräfte und transnationaler Akteure ist zu fragen: Welche Rolle spielten ausländische Vereine und Organisationen, deren Interesse dem Protestantismus im Ausland galt oder die ein Interesse an einer Stärkung – oder einer Schwächung – des „Deutschtums“ im Ausland hatten? Wie verhielten sich die Kirchen zu diesen „Nationalisierungsversuchen“ und welchen Wertehierarchien folgten sie?