Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Bericht Präsentation von drei neuen Bänden der Reihe „Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit“

Präsentation von drei neuen Bänden der Reihe „Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit“ mit Festvortrag von Hartmut Lehmann

Internationales Begegnungszentrum der Wissenschaft, 15. Juli 2015

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Zu der Vorstellung von drei neuen Dissertationen lud das IGK „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ für den 15. Juli 2015 in das Internationale Begegnungszentrum der Wissenschaft ein. Mit Lisa Dittrichs Studie „Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848-1914)“, Philipp Lenhards Arbeit unter dem Titel „Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848-1915)“ und Kathrin Krogner- Kornaliks Buch „Tod in der Stadt. Religion, Alltag und Festkultur in Krakau 1869-1914“ wird die unter der Herausgeberschaft von Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Wilhelm Graf, Prof. Dr. Martin Schulze Wessel und Prof. Dr. Miloš Havelka stehende Buchreihe „Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit“ fortgesetzt. Den Festvortrag für diesen Anlass hielt Prof. (em.) Dr. Dr. Hartmut Lehmann.

Lisa Dittrich eröffnete die Vorstellungen mit ihrem der Untersuchung europäischer Kulturkämpfe in drei Ländern gewidmeten Buch. Sie betrachtet das Verhältnis zwischen Staat, Kirchen, Religion und Gesellschaft und analysiert die Entwicklung der Auseinandersetzung, ihre Akteure, Dynamiken, Verbindungen und Varianten. Die unterschiedlichen Akteure – Liberale, Republikaner, Sozialisten, Anarchisten, Freimaurer und Freidenker – arbeiteten grenzüberschreitend am Projekt der Kirchenkritik. Sie sahen sich dabei als Teile eines gemeinsamen europäischen Kampfes, was sich auch in der Entwicklung eigener, spezifisch antiklerikaler Europavorstellungen niederschlug. Die europäische Ebene wurde als Legitimationsinstanz herangezogen, gleichzeitig blieb der nationale Bezugsrahmen für die unterschiedlichen antiklerikalen Akteure als maßgebender politischer Handlungsraum zentral.

Dittrich tritt in ihrer Studie dafür ein, für die Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts an der Säkularisierungsthese als Interpretationsrahmen der Kulturkämpfe festzuhalten. Die Säkularisierung sollte dabei aber nicht als Gegensatz zur Religion konzipiert werden. Vielmehr waren unter den Kirchenkritikern nicht nur Atheisten vertreten, sondern ebenso liberale Katholiken, Protestanten oder Anhänger neuer, nicht kirchlich definierter Religionen. In den Kulturkämpfen wurden über weite Strecken Glaubensdiskussionen artikuliert. Der Antiklerikalismus, so Dittrich, stelle eine Suche nach Liberalisierung von Religion dar. Der Diskurs zeichnet sich in den drei untersuchten Ländern durch eine hohe Gleichförmigkeit aus, der Umgang mit dem Religiösen variiert jedoch stark: In Frankreich trat die Glaubensfrage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in den Bereich des Privaten. In Deutschland und Spanien blieb der religiöse Charakter in den Auseinandersetzungen erhalten, wobei für den Fall Spanien eine deutlich höhere Ambivalenz der Kirchenkritik besteht, aus der ein stärkeres Aggressionspotenzial der Antiklerikalen resultiert. Durch eine vergleichende Sicht auf die nationalen Diskurse lässt sich der europäische Antiklerikalismus als ein gemeinsames Phänomen ausmachen, das verdeutlicht, welche unterschiedlichen Pfade die Säkularisierung nehmen konnte.nach oben

Philipp Lenhard setzt sich mit einer Frage auseinander, mit der sich alle mit der jüdischen Geschichte Beschäftigten häufig konfrontiert sehen: Was ist das Judentum? Lenhard beantwortet sie für die in seinem Buch behandelten Bereiche dahingehend, dass deutsche und französische Juden sich im Zeitraum von 1782 bis 1848 in vielfältiger Weise als Angehörige einer ethnischen Gemeinschaft verstanden haben – und eben nicht nur, oder nicht einmal vornehmlich, als „Glaubensgemeinschaft“. Diese These stelle eine Abwendung vom in der Forschung vorherrschenden Narrativ dar, nach dem „modernes Judentum“ gleichbedeutend sei mit „jüdischer Konfession“ und die einhellige Absage an jüdische Nationalität beinhalte. Lenhard bezeichnet dieses Narrativ als „Religionisierungsthese“ und betont, seine davon abweichenden Erkenntnisse eröffneten neue Sichtweisen auf Transformationsprozesse des modernen Judentums.

Der Autor benennt die Verwandlung des Judentums in eine reine Glaubensgemeinschaft als Ziel entstehender Nationalstaaten, deren Vertreter von jüdischen Bürgern eine De-Ethnisierung erwarteten. Diese Forderung fanden auf jüdischer Seite teils Widerhall, was zur Entstehung eines unterschiedlich radikalen Reformjudentums betrug. Dagegen erhoben sich Stimmen, die zwar das Judentum für reform- und erneuerungsbedürftig hielten, gleichzeitig aber die Reduktion auf eine Religion ablehnten und das jüdische Selbstverständnis als Volk bewahrt wissen und das ethnische Bewusstsein gestärkt sehen wollten. Auch Konservative und Orthodoxe traten der „Religionisierung“ entgegen. Jüdische Ethnizität war ferner eine Möglichkeit der säkularen Identifizierung mit dem Judentum und kam so auch für areligiöse Menschen in Betracht, die sich dem Judentum weiterhin verbunden fühlten – auch, aber nicht nur als Reaktion auf bestehenden Antisemitismus. Die Neuentwürfe jüdischer Ethnizität waren vielfältig und facettenreich.

In dem von ihm untersuchten Zeitraum musste eine Gleichzeitigkeit von deutschem bzw. französischem Patriotismus und jüdischer Ethnizität nicht als Widerspruch wahrgenommen werden, da Konzeptionen verfügbar waren, in denen das Allgemeine als organische Einheit des Partikularen gedacht werden konnte.nach oben

Kathrin Krogner-Kornalik setzt sich in ihrer Studie mit den Veränderungen im Umgang mit dem Tod auseinander, der im 19. Jahrhundert zum Objekt von Aushandlungsprozessen säkularer und religiöser Akteure wurde. Dieser Aushandlungsprozess ist nicht nur als Teil einer sanitätspolitischen Agenda anzusehen, sondern er umfasste auch die Infragestellung des bisher von Religionsgemeinschaften innegehaltenen Monopols über den Umgang mit dem Tod. Das hatte zur Folge, dass der Aushandlungsprozess sich auch auf andere Felder der Sepulkralkultur wie beispielsweise den politischen Totenkult erstreckte: Im 19. Jahrhundert erfuhr die politische Gemeinschaft eine Neubewertung, in deren Folge nicht mehr nur Monarchen, sondern auch Dichter und Schriftsteller als Träger der Nation angesehen wurden und in hoher Würde an symbolischen Orten beigesetzt werden sollten.

Krogner-Kornalik untersucht diese Prozesse in und an der Stadt Krakau, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in einer Phase beschleunigter Urbanisierung befand, was sich auch auf das Bestattungswesen auswirkte. Dass Krakau, Zentrum katholischen und jüdischen Lebens, in der Zeit der sogenannten galizischen Autonomie seit 1867 zur inoffiziellen Hauptstadt des staatenlosen Polens wurde, macht diese Fallstudie besonders interessant. Neben Untersuchungen von Bestattungskulturen des Alltags werden Bestattungen und Wiederbestattungen von bedeutenden Persönlichkeiten im städtischen Raum untersucht. Neben der Kathedrale auf dem Wawel wurde die eigens eingerichtete „Krypta der Verdienten“ zum nationalen Pantheon erhoben, was langfristig den polnischen Konfessionsnationalismus bestärkte. Im Untersuchungszeitraum selbst habe die Wahl des Pantheons zu Differenzen zwischen kirchlichen und außerkirchlichen, national gesinnten Akteuren geführt, die jedoch unter anderem wegen der flexiblen Haltung der Geistlichkeit nicht eskalierten. Trotz des primär katholischen Charakters der großen Beisetzungen wirkten auch Angehörige anderer Religionsgemeinschaften an ihnen mit, wobei Krogner-Kornalik vor allem die Teilnahme der jüdischen Gemeinde auch als einen Gradmesser ihrer politischen Partizipation im Allgemeinen ansieht.

Krogner-Kornaliks mikrohistorische Studie fokussiert so auf das Feld der polnischen Religionsgeschichte und Alltagsreligiösität und beleuchtet transkonfessionelle Beziehungen und Konflikte zwischen nationalen und religiösen Deutungssystemen.nach oben

In seinem Vortrag ging Hartmut Lehmann auf Fragen zum Umgang mit Erinnerung ein und somit einem Grundlagenthema der historischen Zunft nach. Während Historikerinnen und Historiker mit dieser Fragestellung meist retrospektiv an einen Themenkomplex herantreten, erörterte Lehmann sie prospektiv anhand der geplanten Feiern zum 500-jährigen Reformationsjubiläum 2017. Er begann mit der Eröffnung der „Lutherdekade“ im Jahr 2008 und skizzierte die geplanten Feiern, ehe er einige damit zusammenhängende Diskussionspunkte benannte. So seien zwar Historiker, Kirchenhistoriker und Theologen in die Planungen einbezogen, ihre Expertise werde aber nur zu ausgewählten Sachfragen in Anspruch genommen, zum Beispiel in der Frage nach dem Umgang mit Luthers antisemitischen Schriften. Von Seiten der Historikern angeregte Fragen wie der nach Terminentscheidungen (Warum soll der Festgottesdienst am 28. Mai und nicht am Reformationstag, dem 31. Oktober 2017 stattfinden? Warum werden historische Daten als disponibel betrachtet?), nach Schwerpunktsetzungen (Warum die starke Fokussierung auf Luther? Warum werden andere Reformatoren so wenig berücksichtigt?) oder Wertungen (Warum findet die für Mai bis September 2017 in Wittenberg geplante „Weltausstellung Reformation“ unter dem Titel „Tore der Freiheit“ statt? Weshalb wird der konservative Luther durch diesen Slogan zu einem liberalen Freiheitskämpfer stilisiert?) würden dagegen nicht aufgegriffen.

Bei der Planung des Luther-Jahres sei, so Hartmut Lehmann, die Kooperation zwischen der staatlichen geschichtspolitischen und kirchlichen Akteuren nicht unproblematisch. Für die politischen Verantwortungsträger stünden nicht zuletzt touristische Aspekte und die Präsentation eines überwiegend positiven Bildes von Martin Luther im Vordergrund. Die historischen Kontexte und theologischen Fragen gerieten dabei tendenziell aus dem Blick. Da das Luther-Jahr vor allem mit Veranstaltungsorten im Europa und primär in Deutschland geplant wäre, vernachlässige man die Kontakte mit außereuropäischen Gemeinden und konzentriere sich zu sehr auf die Person Martin Luthers, statt die „vielen Kinder der Reformation“ einzubeziehen.

 

Pascale Mannert