Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Bericht Präsentation von drei neuen Bänden der Reihe „Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit“

Buchpräsentation der zweiten Kohorte IGK mit Festvortrag von Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr

Internationales Begegnungszentrum der Wissenschaft, 8. Februar 2017

Das Internationale Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen“ hat seit seiner Eröffnung im Oktober 2009 eine beeindruckende Vielfalt an interdisziplinären Studien zur europäischen Religionsgeschichte hervorgebracht. Diese Vielfalt spiegelte sich auch bei der Präsentation der Neuerscheinungen der IGK-Publikationsreihe „Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit“ wider: In den Räumen des Internationalen Begegnungszentrums der Wissenschaft in München fand am 8. Februar 2017 die Buchpräsentation dreier im Rahmen des Graduiertenkollegs vorgelegten Doktorarbeiten statt: Heiko Schmidts Studie über die Altgläubigen im Russländischen Reich, Heiner Grunerts Arbeit über die Serbisch-Orthodoxen in der Herzegowina und Johannes Gleixners vergleichende Untersuchung zu „Menschheitsreligionen“ am Beispiel der Tschechoslowakei und Sowjetrusslands. Begleitet wurden die drei Buchvorstellungen durch den Festvortrag „Umkämpfte Säkularität – Entbettete Religion“ der Leipziger Kultursoziologin Monika Wohlrab-Sahr. Die Moderation übernahm Marie-Janine Calic, Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Universität München.

Den Auftakt der Vorstellungsrunde bildete Heiko Schmidts Dissertation zum Altgläubigentum im Russländischen Imperium. Schmidt analysiert in seiner Arbeit den Wandel der staatlichen Politik gegenüber den Altgläubigen im Gouvernement Livland. Sein Analysezeitraum umfasst die Regentschaft Zar Nikolajs I., Alexander II. und reicht bis zur Legalisierung des Alten Glaubens durch den staatlichen Erlass von 1906. Die Altgläubigen gingen im 17. Jahrhundert aus einem Schisma innerhalb der orthodoxen Kirche hervor, das durch die Reformen des Patriarchen Nikon ausgelöst wurde. Schmidt argumentiert in seiner Arbeit, dass die Altgläubigen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sukzessive in das „multiconfessional establishment“ des imperialen Staates integriert wurden. Der Integrationsprozess der Altgläubigen lässt sich – in Anlehnung an Michail Dolbilov – als eine Disziplinierung beschreiben. So erfüllten religiöse Minderheiten eine konstitutive Rolle für die Nutzbarmachung imperialer Ressourcen: Die von den Religionsgemeinschaften geführten Gemeinderegister gaben Aufschluss über Bevölkerungszahl, potentielle Steuerzahler und Rekruten für die imperiale Armee. Die jahrhundertelange Diskriminierung der Altgläubigen verhinderte jedoch die Mobilisierung eben jener Ressourcen. Schmidt analysiert den Wandel der staatlichen Politik gegenüber den Altgläubigen von der Diskriminierung zur Disziplinierung, vor allen in den Bereichen der Eheschließung, des Bildungswesens und der Glaubensausübung. Dabei werden mehrere Ebenen der staatlichen Verwaltung berücksichtigt: Erstens die Ebene der St. Petersburger Behörden, zweitens die der Beamten und kirchlichen Würdenträger des Gouvernements und nicht zuletzt die Ebene der russischen Intelligenzija (Publizisten, Juristen und Gelehrte).

Heiner Grunert rekonstruiert in seiner Dissertation die Geschichte des serbisch-orthodoxen Glaubens in der Herzegowina unter österreichisch-ungarischer Verwaltung. Grunerts Religionsgeschichte untersucht, welche Rolle der Glaube als Mittel der Vergemeinschaftung und Sinnstiftung in einer peripheren Region unter imperialer Herrschaft hatte. Im Gegensatz zu bisherigen Kirchengeschichten zu den Serbisch-Orthodoxen begreift Grunert die Religion in ihrer alltäglichen Dimension, vergemeinschaftenden Funktion und praktischen Ausgestaltung. Insbesondere interessiert ihn die Wechselwirkung von orthodoxem Glauben und der Idee der serbischen Nation: Religion und Nation generierten im Laufe des 19. Jahrhunderts Deutungsmuster und Ausdrucksformen, die miteinander konvergierten. Das religiöse Leben der Serbisch-Orthodoxen in der Herzegowina hatte einen akephalen Charakter, das heißt es funktionierte losgelöst von zentralen staatlichen Institutionen und der Kirchenverwaltung. Glaubensfeiern und religiöse Praktiken vollzogen sich meist außerhalb von Kirchen und ohne Beteiligung von orthodoxen Geistlichen. Das religiöse Leben der Serbisch-Orthodoxen im 19. Jahrhundert wird auf zwei Ebenen analysiert: Auf der Ebene des religiösen Alltags (Ahnen- und Fruchtbarkeitskult) und der Ebene der religiösen Organisation (Eparchialverwaltung, Kirchgemeinden und Pfarrgeistlichkeit).

Johannes Gleixner widmet sich in seiner Studie zu Menschheitsreligionen der Frage, wie revolutionäre Staaten mit religiösen Vorstellungen umgingen. Am Beispiel der tschechischen und sowjetischen Religionsdebatten, die sich um die Figuren Tomáš G. Masaryks und Anatolij V. Lunačarskijs formierten, argumentiert Gleixner, dass religiöses Sprechen Eliten zu Projektionsflächen konkreter Kollektiverwartungen machte. Indem führende Intellektuelle wie Masaryk und Lunačarskij religiöse Symbolforen für eigene ideologische Ziele funktionalisierten, stilisierten sie sich selbst zu Hoffnungsträgern einer neuen säkularreligiösen Utopie: der Menschheitsreligion. Führende Intellektuelle beider Revolutionsstaaten waren gewissermaßen auf der Flucht vor jener religiösen Bedeutung, die sie selbst diskursiv hervorgerufen hatten. Sie vermieden es folglich, sich zur religiösen Frage zu positionieren. Lunačarskij sowie Masaryk mutierten, wie Gleixner betont, zur unfreiwilligen Verkörperung einer öffentlichen politischen Religiosität, der sie nicht gerecht werden konnten.

In ihrem Vortrag „Umkämpfte Säkularität – Entbettete Religion“ reflektierte Monika Wohlrab-Sahr, Kultursoziologin aus Leipzig, über die Verhältnisbestimmung von Religiösem und Nicht-Religiösem im postsäkularen Zeitalter (Habermas). Die klassischen Annahmen, dass die Modernisierung mit einer Säkularisierung von Gesellschaften einhergehe, seien in den letzten Jahrzehnten widerlegt worden. Die in westlichen Demokratien zu konstatierende „Wiederkehr der Götter“ (Graf) belehre uns immer wieder eines Besseren: Die Debatten um das Burka-Verbot, der öffentliche Streit um die Knabenbeschneidung, schwarz-rot-goldene Kreuze bei Pegida-Demonstrationen, „Prayers for Paris“ nach den terroristischen Anschlägen 2015 und 2016 oder ein muslimisches Gebet am Ende des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels – all jene Beispiele lassen unschwer erkennen: Religion scheint überall präsent zu sein.
Die aktuelle Debatte um das Verhältnis zwischen Religion und Gesellschaft, so die Hauptthese des Vortrags, betrifft im Kern nicht mehr die Frage nach dem ‚Mehr‘ oder ‚Weiniger‘ von Religion in der Gegenwart, sondern die Frage nach der Verhältnisbestimmung und Grenzziehung zwischen Religiösem und Nicht-Religiösem in modernen Gesellschaften. Auf eben jene Verhältnisbestimmung verweist der Begriff „Säkularität“: Säkularität umfasst Markierungen, Einhegungen und Demarkationslinien von Ansprüchen, Befugnissen, Gefühlslagen und Aufgaben von Religiösem und Nicht-Religiösem in einer modernen und ihrem Selbstverständnis nach säkularen Gesellschaft. Im Prozess der Grenzziehung konstituiert sich das Religiöse sowie Säkulare gegenseitig: So definieren eben jene Demarkationslinien die Reichweite von religiösen und säkularen Handlungsräumen. Die Markierung der Grenzen des Religiösen sei, so die Rednerin, stets mit einem spezifischen Verständnis von Moderne und Modernität verbunden. In ihrem Vortrag stellt Wohlrab-Sahr sechs thesenhafte Antworten auf die Frage nach dem Umgang mit Religion in der postsäkularen Gesellschaft vor:

In ihrem ersten Punkt geht Wohlrab-Sahr auf den Rückgang religiösen Einflusses auf die Lebensführung und Sozialisation in Deutschland ein: Sowohl die sich wandelnde Einstellung zu Homosexualität, zu Abtreibung, als auch zur Rolle der Frau legen nahe, dass sich seit der Nachkriegszeit eine zunehmende Indifferenz gegenüber religiösen Deutungsmustern in großen Bevölkerungsteilen äußert. In Deutschland umfasst die Gruppe der Konfessionslosen und Nicht-Religiösen tentativ ein Drittel der Gesamtbevölkerung, deren säkulares Selbstverständnis sich in unterschiedlichen Formen liberaler Lebensführung artikuliert.

Welche Herausforderungen bringt jedoch die globale Migration, hervorgerufen durch Globalisierung, Flucht und Vertreibung, für liberale Demokratien wie Deutschland mit sich? Im Sinne des von Habermas geprägten „postsäkularen Zeitalters“ argumentiert Wohlrab-Sahr in ihrer zweiten These, dass das säkulare Selbstverständnis moderner Gesellschaften durch die sichtbare Religiosität von Migrantinnen und Migranten in Frage gestellt werde. Ein gesellschaftlicher Konsens darüber, was eine säkulare Gesellschaft auszeichne, gestalte sich angesichts einer neuartigen, sichtbaren Religiosität zunehmend schwieriger. Die Debatten um das Burkini-Verbot verdeutlichen, dass sich Kopftuch und Burkini zu „negativen Totems“ verdichtet hätten, zu Symbolen von gesellschaftlichen Innen- und Außengrenzen.

Der dritte und vierte Teil ihres Vortrags befassen sich mit einem neuen Typus religiösen Ausdrucks, der „entbetteten Religion“, und neuen Akteuren, die den Anspruch auf legitime Sprecherschaft erheben: In Anlehnung an Giddens Terminus ‚disembedding‘ verweist die „entbettete Religion“ auf einen religiösen Ausdruck, der außerhalb der konfessionalisierten Religionskultur stattfindet und somit auch außerhalb des etablierten Staat-Kirchen-Verhältnisses. In diesem Kontext weist Wohlrab-Sahr auf die zu beobachtende Tendenz hin, dass religiöse Institutionen einem anwachsenden Vertrauensverlust unterliegen und sich die Religionsausausübung auf einen außerinstitutionellen Rahmen verschiebt. Welche Akteure erheben in diesem Kontext Anspruch auf legitime Sprecherschaft, etwa im öffentlichen Raum? In Zeiten von entbetteter Religion treten selbstermächtigte Akteure in Erscheinung, so die Rednerin, die einen Vertretungs- und Geltungsanspruch erheben – ohne dass klar zu sein scheint, für wen genau sie sprechen und durch wen sie legitimiert sind.

Die letzten beiden Punkte reflektieren über die zu beobachtende Grenzenlosigkeit von Referenzen im religiösen Diskurs sowie über den Kampf um Säkularität angesichts entbetteter Religion. Klassische Regulierungs- und Legitimationsmuster, mit denen bislang der Umgang mit dem Anderen bestimmt wurde, drohen nicht mehr zu greifen: Verweise auf Menschenrechte, Toleranz und Meinungsfreiheit, so Wohrab Sahr, scheinen als Mittel der Einhegung von religiösen Ansprüchen nicht mehr zu genügen. Religion avanciere in zunehmenden Maße zum Bezugspunkt identitärer Ansprüche. Es ließen sich zwei gegenläufige Tendenzen im aktuellen religiösen Diskurs beobachten, deren Bezugnahmen gleichermaßen ‚grenzenlos‘ seien: Zum einen der Verweis auf die Verletzung religiöser Gefühle (etwa im Gefolge von religionskritischen Karikaturen); zum anderen der Rekurs auf die Bedrohung von Zivilisation und Kultur (etwa im Kontext von Islamisierungsvorwürfen).

Der Kampf um Säkularität, und damit einhergehend: der Kampf um Grenzziehungen zwischen religiösen und nicht-religiösen Ansprüchen bleibt eine Herausforderung für moderne Gesellschaften, so das Fazit der Rednerin.

                                                                                                                                           Christoffer Leber

 

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