Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Bericht Präsentation der IGK-Reihe "Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit"

Präsentation der Reihe „Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit“ mit Festvortrag von Hugh McLeod

Historisches Kolleg, 6. Februar 2013

Den Bericht können Sie auch herunterladen (PDF-Dokument, 131 KB).

In den prächtigen Räumen der historischen Kaulbach-Villa stellten die IGK Absolvent(inn)en Martina Niedhammer und Damien Tricoire ihre Dissertationen vor und präsentierten damit gleichzeitig die ersten beiden Bände der IGK-Reihe „Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit“, die seit Ende 2012 unter der Herausgeberschaft der am IGK beteiligten Professoren Prof. Dr. Dr. h.c. Friedrich Wilhelm Graf, Prof. Dr. Miloš Havelka und Prof. Dr. Martin Schulze Wessel in der Reihe erscheint. Damien Tricoire präsentierte den etwa 90 anwesenden Gästen sein Buch „Mit Gott rechnen. Katholische Reform und Politisches Kalkül in Frankreich, Bayern und Polen-Litauen“, anschließend sprach Martina Niedhammer über ihre Dissertationsschrift mit dem Titel „Nur eine »Geld-Emancipation«? Loyalitäten und Lebenswelten des Prager jüdischen Großbürgertums 1800–1867“. Prof. Dr. Hugh McLeod von der Universität Birmingham hielt den Festvortrag zu diesem Anlass.

Im Zentrum von Dr. Damien Tricoires Projekt stand die Frage nach dem Zusammenhang von Politik und Religion im katholischen Europa der Vormoderne. Seine Untersuchung konzentrierte sich dabei auf Polen-Litauen, Frankreich und Bayern im frühen 17. Jahrhundert und die Rolle der Katholischen Reform im Rahmen der politischen Auseinandersetzungen der Zeit. Wie wirkte sich der Glaube an die Unterstützung, Belohnung oder Strafe Gottes auf die Politik eines Machthabers aus? Welche Politik galt als gottgefällig? Wie legitimierte sich Herrschaft? Damien Tricoires Untersuchungsergebnissen zufolge ist die moderne Betrachtungsweise von Politik und Religion als zwei getrennte Handlungsmotive in Bezug auf das frühe 17.  Jahrhundert nicht aufrechtzuerhalten. Für die Zeitgenossen sei Gott ein starker Akteur gewesen, mit dem man „rechnen“ musste. Auf Basis religionsgeschichtlicher Erkenntnisse könne die Politikgeschichte erweitert und erneuert werden. nach oben

Damien Tricoire illustrierte seine Thesen mit Hilfe dreier Abbildungen: Anhand des Bildes einer barocken Jesuitenkirche in Breslau erläuterte er, wie Gerechtigkeit ein zentraler Wert im neuen Herrschaftsmodell des beginnenden 17. Jahrhunderts wurde. Die Münchener Marienstatue diente als Beispiel dafür, wie die Einheit Bayerns mit dem Himmel von den Herrschern zugleich behauptet und gesucht wurde. Der Marienkult und v.a. das Marienpatronat seien aufgrund ihrer Verknüpfung mit Herrschaft und Staatlichkeit ein zentraler Gegenstand seiner Untersuchung gewesen. Die Sakralisierung der fürstlichen Gewalt lasse sich auch an der Sigismundsäule in Warschau zeigen, die den König mit einem Säbel in der einen und mit einem überdimensionalen Kreuz in der anderen Hand darstellt: „Dieses Denkmal spricht den König gleich heilig“, kommentierte Tricoire ein Foto dieser Säule.

Dr. Martina Niedhammer nutzte für ihr Gruppenportrait von fünf Familien aus dem jüdischen Großbürgertum Prags Dokumente wie Nachlassverzeichnisse, auch Fotos, um Rückschlüsse auf die Situation der von ihr portraitierten Personen zu ziehen. Ein Beispiel trug sie in ihrer Präsentation vor: „Beim Blättern im Fotoalbum der Przibrams fällt auf, dass sich alle weiblichen Mitglieder dieser weitverzweigten Prager Familie niemals barhäuptig, sondern immer mit Kopfbedeckung ablichten ließen“, erläuterte Dr. Niedhammer und zeigte das Foto ihres Buchcovers, auf dem die Frau eines Textilfabrikanten, Marie Przibram zu sehen ist. Vergleichsfotografien von nichtjüdischen Damen zeigten, dass dies keine Modeerscheinung war: „Vielmehr scheint es, als hätte der Prager Zweig der Przibrams an der orthodoxen Tradition festgehalten, derzufolge eine Frau nicht mit unbedecktem Haar in der Öffentlichkeit zeigen soll.“

Dr. Niedhammer schreibt in ihrer Arbeit gegen die gängige Meinung an, dass Vertreter der jüdischen Oberschicht je erfolgreicher sie waren, desto zwingender aus gesellschaftlichen Gründen vom Judentum zum Christentum übertraten. Analysen der politischen, kulturellen und religiösen Loyalitäten des jüdischen Großbürgertums zeigten jedoch, wie vielfältig die Selbstentwürfe dieser kleinen, aber gesellschaftlich einflussreichen Personengruppe waren. So seien ihre Protagonisten zugleich in jüdischen Reformvereinen tätig gewesen und hätten an orthodoxen Riten teilgenommen. Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinde habe nicht an einem patriotischen Bekenntnis zur „böhmischen Nation“ gehindert, und die Mitgliedschaft im liberalen „deutschen“ Lager sei einem Engagement für die tschechische Sprache nicht im Wege gestanden.nach oben

Prof. Dr. Hugh McLeod sprach in seinem Festvortrag über die Formen der Säkularisierung im westlichen Europa und in den USA. Er ging dem populären Idiom vom so genannten „God-Gap“ nach, demzufolge den immer noch religiös geprägten Vereinigten Staaten ein weitgehend säkulares  Europa gegenüberstünde. Diese Vorstellung bezeichnete er als zu vereinfacht („oversimplified“). Bis in die Nachkriegszeit hinein seien Amerika und Westeuropa in der Entwicklung ihres Verhältnisses zur Religion weitgehend parallel gegangen. Erst in den 1970ern hätten sich die Diskurse so unterschiedlich entwickelt, dass man von einer Kluft sprechen könne. Wie weit diese Kluft reiche, sei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu entscheiden: „The gap is still there, but maybe it is narrowing.“

 

Die sich an die einzelnen Vorträge anschließenden Diskussionen konnten bei einem Empfang im Gartensaal des Historischen Kollegs weitergeführt werden.nach oben

 

Carmen Reichert