Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Dissertationsprojekekt: Die Genese der Idee des christlichen Zarentums im Russland der Vormorderne

Im 15. und 16. Jahrhundert änderte sich im alten Russland allmählich die Regierungsform. Aus einem Fürstenbund mit einem Großfürsten als primus inter pares entwickelte sich ein zentralisiertes Zarentum mit einem Zaren als Alleinherrscher, der als Abbild Christi imaginiert wurde. Durch die schrittweise Errichtung des christlich legitimierten Zarentums fand die byzantinische Reichsidee ihre Fortschreibung und Umdeutung in der Moskauer Rus’, was sowohl die innere Entwicklung als auch die Außenpolitik Russlands bis ins 20. Jahrhundert prägte.
Das Ziel des Forschungsvorhabens ist es, die Entstehung, Entwicklung und Herausforderung der Idee des christlichen Zarentums im vormodernen Russland interdisziplinär, transkulturell und anhand eines vielfältigen Quellenkorpus zu untersuchen. Eine vergleichbare Studie liegt bisher nicht vor. Für die umfassende Erforschung des christlichen Zarentums werden folgende Quellengattungen herangezogen: theologische Traktate und dynastische Legitimierungslegenden, Rituale, Ikonographie, seine räumliche Entfaltung in der Architektur und den Pilgerfahrten des Zaren sowie die Vertonung in der Kirchenmusik. Besondere Aufmerksamkeit gilt den bildlichen Quellen aus der russischen Provinz sowie der kirchlichen Musik, die in bisherigen Forschungen zum Thema nicht berücksichtigt worden sind.
In vergleichender Perspektive sollen die Spezifika des russischen Falles herausgearbeitet werden. In dem Projekt wird die folgende These vertreten: Die Idee des christlichen Zarentums war im 15. und 16. Jahrhundert noch keine imperiale, sondern vor allem eine eschatologische Idee. Sie konnte zwar für die Legitimation von Landeroberungen herangezogen werden, sollte aber in erster Linie die Seelenrettung der Untertanen des Zaren vor dem Jüngsten Gericht sichern. Die Eschatologie spielte in der Moskauer Rus’ bei der Herausbildung der christlich legitimierten Alleinherrschaft im Vergleich zu Byzanz und dem Heiligen Römischen Reich eine viel wichtigere Rolle.
Das Forschungsvorhaben leistet nicht nur einen Beitrag zur Erforschung der Genese des Zarentums im vormodernen Russland des 15. und 16. Jahrhunderts, sondern trägt auch zum allgemeinen Verständnis von Herrschaftslegitimierungen bei, indem es die russische Variante der durch Gott legitimierten Gewalt in Bezug zu anderen Formen der Herrschaftslegitimierung im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa untersucht. Ebenso wird die Rezeption und Umsetzung der eschatologischen Erwartungen im vormodernen Russland mit dem Einfluss von Endzeiterwartungen auf das theologische und politische Denken in Europa in Beziehung gesetzt.