Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
print

Links und Funktionen
Sprachumschaltung

Navigationspfad


Inhaltsbereich

Dissertationsprojekt: Vertriebene Katholiken zwischen „sudetendeutscher Volksgruppe“ und deutsch-tschechischer Verständigung. Die Ackermann-Gemeinde von 1946 bis 2004

Die Ackermann-Gemeinde entstand ab 1946 als katholische „Gesinnungsgemeinschaft“ von Deutschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Zwangsmigration Böhmen, Mähren und Schlesien verlassen mussten. Die maßgeblichen Initiatoren waren der christlich-soziale Politiker Hans Schütz und der Augustinerpater Paulus Sladek. Die Ackermann-Gemeinde gliederte sich in die Strukturen der „Sudetendeutschen Landsmannschaft“ ein, setzte aber auch sehr stark darauf, mittels Elitenbildung in Politik und Kirche der westdeutschen Aufnahmegesellschaft Geltung zu gewinnen. Als programmatische Grundprinzipien wurden in der Anfangsphase der Anspruch auf die alte „Heimat“ bei gleichzeitiger Absage an „Hass“ und „Vergeltung“ gegenüber der tschechischen Bevölkerung festgelegt.

In den ersten zwei Jahrzehnten stand für die Ackermann-Gemeinde die Prägung der Identität einer „sudetendeutschen Volksgruppe“ im Vordergrund. Dabei kombinierte sie an den „Volkstumskampf“ der Zwischenkriegszeit anknüpfende Narrative mit einer „abendländischen“ Europaidee, die auf einem angenommenen Zivilisationsgefälle zwischen West und Ost basierte. Mitte der 1960er-Jahre setzte in der Organisation ein erster Generationenwechsel ein, und es folgte ein verstärkter Einsatz für verfolgte Katholiken in der Tschechoslowakei. Nach der Samtenen Revolution 1989 wurde die Ackermann-Gemeinde auch in Tschechien selbst tätig. Die Organisation etablierte Dialogforen religiöser und politischer Eliten, als ein solch intensiver deutsch-tschechischer Austausch auf höchster staatlicher Ebene noch nicht möglich erschien.

Mit ihrem sowohl politischen als auch religiösen Anspruch ist die Ackermann-Gemeinde ein Forschungsgegenstand einer „Neuen Politikgeschichte“, welche im Vorfeld der Politik angesiedelte Akteure, ihre Einflussnahme und Rolle in der Sozialisierung von Eliten in den Blick nimmt. Das Erkenntnisinteresse gilt zudem dem Verhältnis religiöser und identitätspolitischer Vorstellungen. Dieses bewegte sich bei der Ackermann-Gemeinde zwischen Schlagworten wie „Volksgruppe“, „Abendland“ und „Europa“, aber auch „Gericht Gottes“, „Buße“ und „Versöhnung“. Hinsichtlich der deutsch-tschechischen Beziehungen sollen Erkenntnisse darüber gewonnen werden, inwiefern die Organisation jenseits der staatlichen Außenpolitik eine Art gesellschaftliche Diplomatie betrieb.

Die leitende Fragestellung meines Projektes ist, wie sich Ausrichtung und Wirken der Organisation unter stark veränderten äußeren Rahmenbedingungen entwickelt haben. In der Langzeitanalyse, die die Jahre zwischen 1946 und 2004 umfasst, sind die maßgeblichen Zäsuren die Neue Ostpolitik ab 1969 und der Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Konkret festgemacht werden soll der Wandel anhand spezifischer Fragestellungen zu Ideen, Strategien und Verflechtungen der Ackermann-Gemeinde. Dabei interessiert insbesondere, wie sich die Organisation in Spannungsfeldern wie denen zwischen „Volksgruppe“ und Glaubensgemeinschaft sowie zwischen Vergangenheits- und Zukunftsorientierung bewegte.