Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Dissertationsprojekt: "Wie ich dich liebe, du Volk aller Völker!" Konversionen zum Judentum in Deutschland und Österreich in der Moderne

In Bezug auf Konversionen wird die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts in der deutsch-jüdischen Geschichtsschreibung meist mit dem Übertritt von Juden zum Christentum verbunden. Zu den grundlegenden Metageschichten dieses Zeitraums gehören die Assimilation an die nichtjüdische Umwelt, zugespitzt in der „Judentaufe“, und ihr Scheitern im Holocaust. Dabei bleibt allerdings eine Personengruppe unberücksichtigt: die der zum Judentum übergetretenen Christen. Im vorliegenden Dissertationsprojekt wird dieser Forschungslücke nachgegangen. Wie definierten sich Menschen, die in Deutschland oder Österreich zum Judentum übertraten, vor dem Hintergrund religiöser Neuorientierungen, aber auch zunehmender antisemitischer Stigmatisierung der Juden als "artfremder Rasse"? In der Zeit des aufkommenden rassischen Antisemitismus nahmen diese Konvertiten eine erneute Sonderstellung ein, da die Identität eines „Ariers“, der sich zum jüdischen Glauben bekannte, naturgemäß die NS-Rassenideologie unterlief und die Konvertiten, so die Hypothese, zwischen 1933 und 1945, wenn nicht schon davor, verstärkt zur Auseinandersetzung mit der eigenen Identität gezwungen waren. Auch insofern erscheint eine Untersuchung dieser Personengruppe besonders lohnenswert.


Anhand von vier Lebensläufen soll im ersten Teil der Arbeit neben der Frage nach dem Selbstverständnis der Konvertiten die Art und Weise, wie das alte und das neue Umfeld mit ihnen umgingen, untersucht werden. Ausgewählt wurden bisher die Schriftstellerinnen Paula Buber (*1877), Ehefrau des Religionsphilosophen Martin Buber, und Nahida Lazarus (*1849), Ehefrau des Völkerpsychologen Moritz Lazarus, sowie Paula Beer-Hofmann (*1877), Ehefrau des Schriftstellers Richard Beer-Hofmann, und Baron Ernst von Manstein (*1869), der vor 1933 in der jüdischen Gemeinde Würzburgs aktiv war.

Wo die Biografien die Vielfalt individueller Konversionsgeschichten aufzeigen, stellen sie zugleich auch den Konversionsbegriff der heutigen Religionswissenschaft in Frage. Denn zum einen lässt sich dieser Begriff nur begrenzt auf den jüdischen Kontext anwenden, da er nach wie vor die Konversion als christlich geprägtes religiöses "Erweckungserlebnis" versteht, also die für das Judentum wichtige ethnische Komponente ausspart. Zum anderen macht der ausgewählte Untersuchungszeitraum deutlich, dass der Übertritt zum Judentum nicht unbedingt (nur) eine Konversion im Sinne eines Wechsels von einem religiösen zu einem quasi „religiös-ethnischen“ Sinnsystem darstellen muss. Verstünde man diesen Vorgang primär als Religionswechsel, so würden bedeutende politische Motive für den Übertritt zum Judentum ignoriert, wie beispielsweise im Fall von Nahida Lazarus, deren Konversion nur die letzte persönliche Konsequenz ihres Aufklärungskampfes gegen den Antisemitismus darstellte.

Der zweite Teil des Dissertationsprojekts befasst sich demgemäß mit der Suche nach adäquateren Begrifflichkeiten. So soll prinzipiell zwischen sozialer, politischer und religiöser Konversion zum Judentum unterschieden und geprüft werden, inwieweit diese Unterscheidung angemessen ist und zu einem besseren Verständnis der jeweiligen Konversionsgeschichte beitragen kann.