Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Tagungsbericht

Religion und Moral

Veranstalter: Internationales Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“

Karlsbad, 3.-5. November 2016

Donnerstag, 3. November
Nach der Anreise begrüßte Martin Schulze Wessel (München) die Teilnehmenden der Konferenz „Religion und Moral“ in der Bechervilla im malerisch gelegenen Karlsbad. Das Gebäude wurde von jener Familie erbaut, die für ihren Kräuterschnaps namens Becherovka weit über die tschechische Landesgrenze hinaus bekannt wurde.

In seiner Einführung und Heranführung an das Tagungsthema „Religion und Moral“ schilderte Martin Schulze Wessel, dass Moral nicht nur mit Religion zusammenhänge, sondern ebenfalls mit Tradition, Recht und rationaler Vernunft. Dabei stellte er zwei Zugänge vor, die sich der oder die Forschende zunutze machen kann: Er sprach von der deskriptiven und von der normativen Untersuchungsweise. Wie der weitere Verlauf der Konferenz zeigte, ist Moral aufgrund der Quellenlage und Forschungsfrage für die Referenten und die Forschenden auf einer deskriptiven Ebene besser fassbar.

Das erste Panel beschäftigte sich mit dem Thema „Moral und Lebensführung“. Die ersten beiden Beiträge waren zeitlich in die 1960er, 1970er und 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts eingebettet und geografisch auf die Länder Frankreich, Israel und Deutschland eingegrenzt. Katharina Hey (München) untersuchte in ihrem Beitrag das nationale und religiöse Bewusstsein verschiedener französisch-israelischer und jüdisch-französischer Intellektueller in der Zeit zwischen dem Algerienkrieg (1954) und dem Sechstagekrieg (1967). Raphael Rauch (München) wählte das Medium Film, um über die „Jewish Moments“ in den Filmen und Serien des Münchener Filmemachers Helmut Dietl aus den 1970er und 1980er Jahren zu referieren. Jüdische Intellektuelle und mit dem Judentum sympathisierende Kunstschaffende verband nicht nur eine gemeinsame jüdische Vergangenheit, sondern gleichzeitig auch jahrhundertealte Traditionen, welche ihr moralisches Denken und Handeln gleichermaßen beeinflusst haben. Ihre Werke wirken, wie die Beiträge zeigen, bis heute nach.

Freitag, 4. November
Der zweite Konferenztag startete bei Sonnenschein mit einer Führung durch Karlsbad, welche von der dritten Kohorte Promovierender des Graduiertenkollegs durchgeführt wurde.
Den Anfang machte Jan Zachariáš (München) mit dem Hotel Thermal, welches im Stil des Brutalismus erbaut wurde und neben dem bekannten Grandhotel Pupp als Austragungsort des Karlsbader Filmfestivals dient. Claus Spenninger (München) stellte die verschiedenen Thermalquellen im Zentrum vor, welche von den das Stadtbild prägenden Kolonnaden geschützt sind. So kann man auch bei schlechtem Wetter direkt an den Quellen verweilen. Weiter ging es unter der Führung von Christoffer Leber (München) zum Stadttheater und dem eindrücklichen Láznĕ I. Das Bad ist bekannt für seine heilenden Moorbäder. Diese wurden durch ein ausgeklügeltes, unterirdisches Gangsystem direkt zu den gut betuchten Gästen in die Einzelbadezimmer transportiert. Danach spazierte die Gruppe weiter zur Maria-Magdalenenkirche, der katholischen Kirche von Karlsbad, welche von Julia Bloemer (München) vorgestellt wurde. Zu einem traurigen Kapitel der Geschichte von Karlsbad gehört die völkisch-nationalsozialistische Vergangenheit. Niklas Zimmermann (München) referierte vor dem Kurhaus Láznĕ III über die Verabschiedung des „Karlsbader Programms“ der Sudetendeutschen Partei, welches die Autonomie der Deutschen in der Tschechoslowakei forderte. Die Zeit nach dem Münchner Abkommen von 1938 und dem mit ihm verbundenen Anschluss des „Sudetenlandes“ an NS-Deutschland schilderte Fabian Poetke (München) vor dem Staatspolizeikommissariat, das kurz nach seinem Bau von der Gestapo zu deren Hauptzentrale umfunktioniert wurde. Auf dem Weg zur Bechervilla hielten wir bei der Gedenkstätte der Synagoge von Karlsbad inne, wo uns Josef Herbasch (München) mehr über die Situation der Karlsbader Juden vor und nach 1945 erzählte.

Dem zweiten Teil des Panels „Moral und Lebensführung“ widmete Tomáš Pavlíček (Prag) dem Thema: „Von mutwilliger Jugendlichkeit zur theologisierten Sittlichkeit. Der Einfluss der Moral während der geistlichen Ausbildung der Priesterseminaristen im 19. Jahrhundert“. In seinem Beitrag präsentierte er die Resultate seines abgeschlossenen Promotionsprojekts. Im Zentrum seiner Untersuchung und historischen Analyse standen 20 Briefkorrespondenzen zwischen ehemaligen Gymnasiasten, welche später entweder ins Priesterseminar eintraten oder säkulare Berufszweige verfolgten. Einerseits zeugen die Narrative in den Briefen von Freundschaft, Bruderschaft, Motivationen und Bedenken hinsichtlich des Eintritts in das Priesterseminar und den moralischen Vorstellungen der Seminaristen. Andererseits ermöglichen sie zusätzliche Einblicke in die Wandlung der Ausbildungsstruktur der Priesterseminare Mitte des 19. Jahrhunderts. Franz Xaver Bischof (München), der den Beitrag kommentierte, sah darin die Möglichkeit eines Einblicks in das kollektive Bewusstsein einer Studentengeneration mit ihrem geistig-moralischen Denken und erkennt zudem ein offenes Forschungsfeld zur Rolle der Knabenseminare im Kontext der beginnenden Säkularisierung.

Das zweite Panel befasste sich mit dem Thema „Staaten, Gesellschaft und Moral“. Adam Dobeš (Prag) stellte sein Promotionsprojekt „Eugen Graf Czernin als Reformkatholik. Theologische und staatskirchenrechtliche Einstellungen“ vor. Auch er untersuchte zu diesem Zweck Quellen in Form von Tagebüchern und Korrespondenzen. Er plädierte dafür, in der Biografieforschung mehr anthropologische Quellen miteinzubeziehen. Als Reformkatholik scheint Graf Czernin im Spannungsfeld von Josephinismus und aufkommenden neuen Strömungen wie dem Konservatismus, Liberalismus und Rationalismus zu verorten zu sein. Jan Tesař (München) referierte zum Thema „Realsozialismus: die goldene Ära des wissenschaftlichen Atheismus in der UdSSR und ČSSR“ und kam zu dem Schluss, dass atheistisches Denken aus der Sowjetunion für die Entwicklungen in der Tschechoslowakei unmittelbaren Einfluss ausübten. Dafür war nicht zuletzt der atheistische Nährboden, der sich seit dem Märtyrertod des Reformators Jan Hus gebildet hatte, mitverantwortlich. Während die 1960er Jahre als Geburtsjahre der atheistischen „Denkkollektive“ gelten, kam es in den 1970er Jahren zu der Gründung von Instituten des wissenschaftlichen Atheismus. Siegfried Weichlein (Fribourg) fragte in seinem Kommentar nicht nach dem „was“, sondern nach dem „wem“ hinter dem wissenschaftlichen Atheismus. Wer verfolgte welches Ziel damit? Seiner Ansicht nach konnte das Ziel der Bekämpfung von Religion allein durch Propaganda nicht erreicht werden. Darum wurde der wissenschaftliche Atheismus von der Regierung aktiv forciert und als Legitimation genutzt.

Im zweiten Teil dieses Panels stellte Cem Kara (München) einen Ausschnitt seiner Arbeit unter dem Titel: „Zwischen Toleranz und Abgrenzung: Bektaschi-Derwische und Christen im späten Osmanischen Reich“ vor. Der Austausch zwischen christlichen und muslimischen Kulturen wurde in der Neuzeit durch Missionare, Diplomaten, Reiseberichtschreibende und Orientalisten getragen, welche als Mittelspersonen zwischen den Kulturen fungierten. Kara zeigte, dass bis in das 19. Jahrhundert der Austausch der Kulturen von Duldung, Toleranz und Ambiguitäten geprägt war. Es gab oftmals Mischehen sowie christliche Motive und Narrative in der religiösen Praxis der Bektaschi-Derwische (Gusül - Taufe, Där - Beichte, 12 Imame - 12 Apostel). Seit dem frühen 20. Jahrhundert häuften sich Abgrenzung und Konflikte, welche im Ausschluss bestimmter Kulturkreise gipfelten. Elke Shoghig Hartmann (München) betonte in ihrem Kommentar die Wichtigkeit der Forschung zum Austausch christlicher und osmanischer Kultur, da sie weder von den Islamwissenschaften, noch von der südosteuropäischen Geschichte aktiv unterstützt werde. Dies hängt nicht zuletzt mit der äußerst komplizierten politischen Lage in der Türkei zusammen, was die Herausgabe von Archivakten oftmals erschwert. Hinzu kommt die Komplexität der nicht-türkischen osmanischen Quellensprache. Außerdem betonte Hartmann den Einfluss der Bürokratisierung im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese führte zur Exklusion verschiedener Volksgruppen, da diese nun definitiv bestimmten Religionen und Kulturen zugeordnet wurden, wovon nicht alle gleichermaßen erfasst wurden.

Samstag, 5. November
Der dritte Konferenztag begann mit einem Beitrag von Carmen Reichert (München) zum dritten Panel „Moral und Revolution“. Darin stellte sie ihr Thema „Lyrik als Gegenwelt. Die Darstellung neuer jüdischer Selbstverständnisse in deutschen und jiddischen Lyrikanthologien“ vor. Diese Anthologien jüdischer Lyrik können dabei als Vermittler eines neuen politischen Verständnisses und Programms verstanden werden. Mit drei Beispielen aus den Jahren 1903 (Die jungen Harfen), 1923 (Brenendike Brikn) und 1938 (Stimmen der Völker) erarbeitete sie die These, dass Künstler und Dichter Vorreiter in der Entwicklung von Selbstbildern sein können, da Gedichte ihre Erschaffer meist überlebten. Dana von Suffrin (München) präsentierte im Anschluss einen Teil ihres Projekts unter dem Titel „Kultur statt Natur: Die Botanischen Zionisten in Palästina von 1900-1930“. Die botanischen Zionisten wollten durch ihr Schaffen aufzeigen, dass sie die legitimen Besitzer Palästinas seien. Sie knüpften dabei an ein bekanntes Narrativ aus dem Kolonialismus und Imperialismus an, wonach Wissen und Wissenschaft als zentraler Faktor und identitätsstiftendes Moment genutzt werden. Darin bestätigt sich die These, dass das „Land [denen] gehört […] die es verstehen und erfahren können“. Arndt Engelhardt (Jerusalem/Leipzig) identifizierte in seinem Kommentar das gemeinsame Moment beider Beiträge in der Legitimation und Abgrenzung des Eigenen zum Universalen, der Positionierung und der Hervorhebung des jüdischen Wissens und der Literatur in der gesamten Wissenschaft und Weltliteratur.

Den zweiten Teil des Panels „Moral und Revolution“ widmete David Schick (München) dem Thema „Moralische Revolution oder revolutionäre Moral? Jüdische Sozialisten in Wilna und ihr Verhältnis zur Religion“. Darin zeigte er das Beispiel einer jüdischen Arbeiterbewegung im Spannungsfeld von Religion, Moral und Sozialismus auf. Unter moralischer Revolution verstand er die radikale Abwendung von einer alten Lebenswelt. Er stellte fest, dass die jüdische Binnenloyalität weiterhin wichtig war, es innerhalb des Judentums jedoch ebenfalls zu einer Zweiklassengesellschaft kam. Dabei war es für die Mobilisierung der jüdischen Arbeiter unabdingbar, sich sowohl auf sozialistische als auch auf jüdische Narrative zu berufen. Tobias Grill (München) sah in seinem Kommentar den Grund dafür, dass jüngere Juden in der Arbeiterbewegung engagiert waren, darin, dass ein religiös-moralisches Wertekonzept im Revolutionären immer noch eine wichtige Rolle spielte. Oder mit anderen Worten: Man betrachtete den Sozialismus als eine säkularisierte Form des Judentums.

Einen provokativ zum Nachdenken anregenden Abschluss der Tagung bot der von Katharina Ebner (München) moderierte Vortrag von Dan Diner (Jerusalem/Leipzig) zum Thema „Wiederkünfte - über politische Topographien des Religiösen“. Der geschichtstheoretische Vortrag beschäftigte sich mit dem Element der „Langzeitigkeit“. Als Gemeinsamkeit von Geographie und Religion macht Diner die lange Dauer aus. Seiner Ansicht nach ist der Krieg in Syrien kein Bürgerkrieg für oder gegen jenes Regime, sondern ein zeitlich weit zurückreichender religiöser Konflikt zwischen heterodoxen ländlichen Minderheiten und orthodoxer wohlhabender Stadtbevölkerung. Als weiteres Beispiel führte er die Wiederkehr Russlands an, die alten Linien russischer Expansion folge. So sei der Krimkrieg von 1853 bis 1856 durch die Frage nach dem Zugang zur Jerusalemer Grabeskirche religiös geprägt gewesen. Im Hinblick auf die heutige muslimische Einwanderung sieht Diner eine Herausforderung des europäischen Wertekanons. Denn letztlich basiere auch die Säkularisierung auf einer christlichen Grundlage. Als konkrete Beispiele verknüpfte Diner die Problematik mit der jüdischen Geschichte: So lehnten die Juden in Algerien während der französischen Kolonisation die französische Staatsbürgerschaft ab, da der Code civil auf christlichen Grundlagen basierte. In der Folge wurde Algerien zum Ort des französischen Antisemitismus. Ein anderes Beispiel ist Polen, wo es im 19. Jahrhundert nicht gelang, eine gesellschaftliche Einigung über Sabbatruhe und christlichem Sonntag herzustellen.

Insgesamt ist es an der Konferenz auch dank der familiären Atmosphäre in der Bechervilla gelungen, die spezifische Thematik „Religion und Moral“ mit einem würdigen Abschluss für die zweite Kohorte Promovierender des Graduiertenkollegs zu verbinden. Und auch die Kollegiatinnen und Kollegiaten der dritten Kohorte konnten aus den Diskussionen zahlreiche Impulse für ihre eigenen Forschungsarbeiten mitnehmen.

Martina Blättler und Niklas Zimmermann

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