Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Forschungsprojekt: Kirche, Bürger und Hof als Akteure der Erinnerung an den Feind. Eine vergleichende Untersuchung zur Funktion des Türken- und Schwedengedächtnisses in Wien und Brünn im langen 19. Jahrhundert

In Wien wie auch in Brünn erinnerte man sich jahrhundertelang an einen übermächtigen Gegner, der im 17. Jahrhundert die Stadt bedroht hatte und doch zurückgeschlagen werden konnte. Was für Wien die Bedrohung durch den „Erbfeind christlichen Namens“ war, war für Brünn die „Schwedenfurcht“ vor dem protestantischen Reichsfeind. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war es in beiden Städten ganz besonders die Kirche, die für die regelmäßige Aktualisierung der Erinnerung an den historischen Gegner sorgte. Als um 1800 auch vonseiten des Bürgertums begonnen wurde, Initiativen zur Erinnerung an die Abwehr von Türken und Schweden zu setzen, trat damit in Hinblick auf die Dominanz der Kirche ein Wandel ein. Im ganzen 19. Jahrhundert, vor allem im zeitlichen Umfeld runder Jahrestage, bedienten sich nun unterschiedliche Akteure, zu denen auch der Hof zu zählen ist, eines umfangreichen Repertoires an Vermittlungsformen, um die Erinnerung an den Sieg gegen Schweden beziehungsweise Türken zu aktualisieren und zu verbreiten. Darunter fallen Denkmalerrichtungen, Umzüge, historiografische, belletristische und dramatische Werke, Gottesdienste, Konzerte, Volksfeste und vieles mehr.

Ausgehend von Ereignissen wie Jubiläumsfeiern, Denkmalerrichtungen oder kirchlichen Feiertagen soll untersucht werden, welche Funktionen die Erinnerungen an die Türkenbelagerung von 1683 in Wien sowie an die Abwehr der Schweden vor Brünn 1645 im 19. Jahrhundert erfüllen konnten und wer daraus Nutzen zu ziehen wusste. Oder anders gefragt: Wann erinnerte welcher Akteur zu welchem Zweck an den Gegner von einst? Denn die wiederholte Aktualisierung dieser Erinnerungen geschah nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Kontext, sondern erfüllte immer auch Funktionen, die da sein konnten: Die Legitimierung der Dynastie durch die Erinnerung an kaiserliche Heerführer; die Wiederbelebung jenes Schuldgefühls, das den Einwohnern aus der göttlichen Errettung der Stadt erwachsen war; die Übertragung der historischen Bedrohung und ihrer Überwindung auf einen aktuellen Gegner. Im Rahmen des Projekts wird besonders letztgenanntem Beispiel besondere Aufmerksamkeit zuteil, zeigt es doch, wie sehr erinnerte Gegner Bedeutungsträger darstellen, die als Schablonen zur Markierung und Dämonisierung aktueller Feinde, d.h. zur Produktion und Aktualisierung von Feindbildern dienen können.

Der Vergleich zwischen den beiden Städten und damit auch zwischen den beiden erinnerten Gegnern zielt vor allem auf folgende Fragen ab: Wurden Schweden und Türken unterschiedlich erinnert und diente diese Erinnerung unterschiedlichen Zwecken? Eignete sich ein historischer Gegner besser als der andere zur Stiftung von Identität, zur Markierung eines aktuell Anderen und damit auch zur Produktion von Feindbildern? Welche Rolle spielt dabei Religion als Abgrenzungsmarker, welche die Art und der Aufwand der Inszenierung und Vermittlung von Erinnerung? Ist ein Wandel, auch ein Abbau von Feindbildtauglichkeit festzustellen und wenn ja, warum?

Das langfristige Ziel des Projekts besteht in einer Ausweitung des komparativen Horizonts auch auf andere erinnerte Gegner, wodurch jene Muster deutlicher erkennbar werden sollen, nach welchen die Dynamiken der Funktionalisierung historischer Gegner ablaufen, gerade auch in Bezug auf die Produktion von Feindbildern. Das wiederum könnte Schlüsse auf den Umgang mit Feindbildern und Heterostereotypen auch in der Gegenwart zulassen.