Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Forschungsfelder

Die einzelnen Forschungsvorhaben orientieren sich an der Leitfrage, wie religiöse Vergemeinschaftungen, Symbolisierungen und Praktiken auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert reagierten und diese ihrerseits prägten. Es werden einerseits verschiedene Konfessionen und Religionsgemeinschaften vergleichend erforscht, andererseits religionsgeschichtliche Entwicklungen in verschiedenen Nationen oder Regionen komparativ und beziehungsgeschichtlich untersucht.

Das Forschungsprogramm stützt sich auf sechs zentrale Themenkomplexe:

  1. Religiöser Wandel
  2. Religion und Wissenschaft
  3. Religion und Nation
  4. Religion und Geschlecht
  5. Religion in der Stadt
  6. Religion und Demokratie

Allen Themenfeldern übergeordnet ist die Frage nach der Prägung sozialer Identitäten durch Religion.

Religiöser Wandel

Ein Strukturmerkmal der europäischen Religionsgeschichten der Moderne seit dem 19. Jahrhundert ist die Beschleunigung des religiösen Wandels. Dieser schlug sich in Gestalt von Traditionsabbrüchen und der Neuerfindung von Traditionen, liturgischen Erneuerungs- und Reformbewegungen, spirituellen Aufbrüchen, theologischen Denkrevolutionen, aber auch in Politisierungsprozessen und der Reformulierung religiöser Symbole und Riten nieder. Diesen Veränderungen liegen interne und externe Faktoren zugrunde. Auf der einen Seite sind darunter Formen institutioneller Selbstmodernisierung zu zählen, auf der anderen Seite reagieren religiöse Akteure und Gemeinschaften auf ökonomische, sozialstrukturelle, kulturelle und rechtliche Veränderungen ihrer Umwelt. Gleichzeitig sind religiöse Akteure auch aktiv an gesellschaftlichen Wandlungsprozessen beteiligt. Den Interaktionen zwischen religiösen und säkularen Deutungskulturen, zwischen verschiedenen Religionsgemeinschaften sowie den Konkurrenzen innerhalb der Konfessionen gilt das Interesse des Kollegs ebenso wie Fragen zum Verhältnis von staatlicher Politik und religiösem Wandel.

Religion und Wissenschaft

Religion und Wissenschaft galten im 19. und 20. Jahrhundert vielfach als antagonistische Ordnungen. Diese Reduktion des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft auf das Konflikthafte widerspricht dem heutigen Forschungsstand. Stattdessen wird die Vielschichtigkeit des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft in ihren Beziehungen, Übergängen und Synkretismen herausgearbeitet. Denn sowohl die Religionen als auch die Wissenschaften erfuhren im 19. und 20. Jahrhundert dramatische Veränderungen, die sich in weiten Teilen aufeinander bezogen. So waren viele religiöse Gemeinschaften durch Prozesse interner Verwissenschaftlichung geprägt, was sich in der historisch-kritischen Lektüre heiliger Texte ebenso niederschlagen konnte wie in der Schaffung neuer Wissensinstitutionen. Forschungszweige wie die „Wissenschaft des Judentums“ konnten sich zu Identitätsangeboten an der Schnittstelle säkularer, wissenschaftlicher und religiöser Deutungskulturen entwickeln. Interaktionen zwischen Wissenschaft und Religion finden nicht zuletzt dann statt, wenn Forschungsergebnisse mit religiösen Grundsätzen in Berührung kommen. Dabei gilt es auch nach dem Selbstverständnis der Akteure dieser Bereiche und nach den an sie gestellten Erwartungen der religiösen und wissenschaftlichen Institutionen sowie von Politik und Öffentlichkeit zu fragen.

Religion und Nation

Das Verhältnis von Religion und Nationalismus ist nicht einfach zu bestimmen. Weder ist von einem zeitlichen Nacheinander – im Sinne des alten Begriffs vom Nationalismus als „Ersatzreligion“ – auszugehen, noch lässt sich das Verhältnis räumlich festlegen, etwa in Hinblick auf einen Ost-West-Gegensatz. Auch funktionale Vergleiche und Analogieschlüsse stoßen vielfach an ihre Grenzen. Das aktuelle Forschungsinteresse richtet sich stattdessen auf die Vielfalt der Verschränkungsformen von Nationalismus und Religion, auf Prozesse der Hybridisierung und Synthetisierung. Die daraus resultierenden verschiedenen Ausprägungen religiöser und nationaler Identitäten gilt es komparativ und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit zu begreifen. Ein wesentlicher Faktor ist dabei das Verhältnis zwischen Kirche(n) und Staat, wobei besonders Fragen nach der Integration von Konfessionen in die Imperien des östlichen Europa bislang noch nicht systematisch untersucht wurden. Forschungen zu den Randregionen der Imperien sowie zu polyethnischen und multikonfessionellen Gesellschaften sind diesbezüglich vielversprechend. Wie auch in anderen Forschungsfeldern gilt auch hier das Interesse des Kollegs den Perspektiven der Akteure, um die sozialen Bedeutungen des Ineinandergreifens von Religion und Nationalismus stärker zu berücksichtigen.

Religion und Geschlecht

Bei der Erforschung religionsgeschichtlicher Zusammenhänge in geschlechtergeschichtlicher Perspektive werden zwei Annahmen zugrunde gelegt: Zum einen, dass die Konstruktion von Geschlechterrollen von der religiösen Tradition einer Kultur beeinflusst ist. Zum anderen, dass die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit einer Gruppe oder Gesellschaft wiederum auf deren religiöse Praxis und Symbolik einwirken. Diese Wechselbeziehungen werden etwa anhand der These der Feminisierung von Religion und Kirche in Bezug auf christliche Religionsgemeinschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert diskutiert. Demgegenüber steht ein in jüngster Zeit vermehrt zu beobachtender Perspektivenwechsel der Forschung hin zur modernen religiösen Männlichkeit. Dieser Fokus ist auch für das Thema geschlechterspezifischer Aspekte des Religionswechsels vielversprechend. Wenig untersucht wurde das Verhältnis von Religion und Geschlecht bisher generell für die historischen Regionen Ost- und Ostmitteleuropas. Gerade für den russisch-orthodoxen Kontext gilt es, Fragen etwa nach der Konstruktion der Geschlechterdifferenz über Religion verstärkt in den Blick zu nehmen.

Religion in der Stadt

In neueren Forschungen wurde die traditionelle Gleichsetzung von Industrialisierung und Urbanisierung mit Prozessen der Säkularisierung, Entkirchlichung und Positionsverlusten der organisierten Religion zunehmend aufgebrochen. Das Augenmerk gilt vermehrt der Anpassung und dem Formenwandel kirchlicher Organisationen sowie der Pluralisierung und Differenzierung religiösen Lebens und religiöser Vergemeinschaftung. Von Interesse ist die Frage nach den Zusammenhängen zwischen den Transformationen von urbanem Raum, Gesellschaft, Politik und Kultur auf der einen und dem Wandel von Religion auf der anderen Seite. Diese Wechselwirkungen finden ihren Ausdruck in unterschiedlichen Aspekten der Religionsproduktivität von Städten in der Moderne, sei es in der Präsenz und Sichtbarkeit von Kirchen und religiösen Gemeinschaften im urbanen Raum oder in den Ausprägungen einer spezifischen „Stadtreligion“. Durch die höchst unterschiedlichen Dynamiken und Formen der Verstädterung der europäischen Gesellschaften ergeben sich darüber hinaus viele Ansatzpunkte für eine vergleichende europäische Religionsgeschichte der neuesten Zeit.

Religion und Demokratie

Spätestens seit „9/11“ wird der Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ diskutiert und nach den Konsequenzen für ihre normativen Grundlagen gefragt. Während auf der einen Seite ein Rückschritt in eine „post-liberale“ Gesellschaft befürchtet wird, stellt sich der Forschung die Frage nach den Bedingungen einer Kultur „religiöser Liberalität“. Darauf abzielende Untersuchungen in Hinblick auf innerreligiöse Entwicklungen oder spezifisch theologische Voraussetzungen bedürfen einer Absicherung durch Studien mit komparativem Ansatz. In liberalen Demokratien wird den Bereichen der Religion und der Politik möglichst weitgehende Autonomie gegenüber gegenseitigen Interventionen eingeräumt: Die Religionen akzeptieren das Zustandekommen kollektiv verbindlicher Entscheidungen durch demokratische Verfahren, und bis zu dieser Grenze gewährleistet der liberal-demokratische Staat Religionsausübung in all ihrer Vielfalt. In diesem Zusammenhang gilt es unter anderem zu fragen, inwieweit die Akzeptanz der Eigengesetzlichkeit weltlicher Fragen vom Grad der Transzendenzorientierung einer Religion abhängig ist.