Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Bericht Sommerschule „Zwischen Nation und Religion: Kollektive Identitäten im Spannungsfeld von sozialen Konflikten, konfessioneller Vielfalt und politischer Macht“

Poznań, 11.6.-16.6.2017

Den vollständigen Bericht finden Sie hier zum Download

In welchem Verhältnis stehen Religion und Nation zueinander? – Mit dieser Frage befasste sich die diesjährige Sommerschule des Internationalen Graduiertenkollegs „Religiöse Kulturen“, die vom 11. bis 16. Juni 2017 in Poznań stattfand. Die Sakralisierung der Nation und Nationalisierung der Religion griffen im Laufe des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht Hand in Hand – man denke etwa an das Russländische Reich oder die Habsburgermonarchie. Blickt man auf die Geschichte des Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, so nahmen Religion und Kirche eine konstitutive Rolle als Ressourcen der Legitimation für eine Nation ein. Zugleich trug die Idee der Nation dazu bei, eine spezifische Konfession oder Religion als Hüterin kollektiver Identität zu exponieren. Gerade das östliche Europa mit seinen zahlreichen miteinander konkurrierenden Nationalismen bietet ein anschauliches Beispiel für die komplexe Verflechtung von Nation und Religion. Die im Laufe der Sommerschule diskutierten Fallbeispiele machten immer wieder deutlich, dass die Nation ein historisch gewachsenes, soziales Konstrukt ist: Ähnlich wie die Religion birgt die Nation – als „imagined community“ (Benedict Anderson) – das Potential, Massen zu mobilisieren und kollektiven Sinn zu stiften.

Wie auch in den Jahren zuvor versammelten sich auf der diesjährigen IGK-Sommerschule die Doktorandinnen und Doktoranden der Universitäten München, Prag, Brünn und Poznań. Die Moderation der einzelnen Panels übernahmen die Dozentinnen und Dezenten der vier Partneruniversitäten. Die Sommerschule war in acht Themenblöcke unterteilt, die sich mit den Bereichen Ethnizität, Gender, Urbanität und Wirtschaft in ihrem polyvalenten Wechselverhältnis zur Religion auseinandersetzten: Die ersten beiden Tage der Summer School fanden in den Räumen der Historischen Fakultät auf dem neuen Campus der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań statt. Nach einer Begrüßung durch die Gastgeber, Przemysław Matusik und Rafał Witkowski, sowie einführenden Worten von Michael Brenner befasste sich der Auftakt der Sommerschule mit drei thematischen Schwerpunkten: erstens dem Verhältnis von Nation und Religion, zweitens mit Religion und Imperium sowie drittens mit Religion und Ethnizität. Das erste Panel zum Verhältnis von Religion und Nation ging vor dem Hintergrund eines Textes von Adrian Hastings der konstitutiven Funktion des Christentums für den Nationsbildungsprozess in Europa nach. Anhand mehrerer Punkte – etwa der Konstruktion eines mythologischen Ursprungs, der Rolle des Klerus, der Funktion der landessprachlichen Literatur sowie der Genese der autokephalen Kirchen – argumentiert Hastings, dass der Nationalismus ein genuin vom Christentum beeinflusstes Phänomen sei. Der zweite Aufsatz von Ekaterina Kalinina zu Biopolitik, Mode und Geschlechtsdiskursen im postsowjetischen Russland behandelte ein aktuelles, höchst brisantes Thema: Inwieweit dient patriotische Mode in Russland dazu, heteronorme Geschlechterrollen, traditionelle Familienwerte und nationalistische Narrative im Zeichen des Kurses Putins zu vermitteln? In der anschließenden Diskussion wurde debattiert, ob die Religion tatsächlich ein zentrales Moment in der Entstehung und Genese des Nationalismus darstellt und inwiefern populärkulturelle und ihrer Form nach „moderne“ Erscheinungsformen (im Bereich Mode und Musik) gegenwärtig mit nationalistischen und reaktionären Inhalten gefüllt werden.

In der zweiten Sitzung zum Thema „Religion und Imperium“ wurde am Beispiel einer vergleichenden Studie von Martin Schulze Wessel die Nationalisierung der Religion in den multiethnischen und multireligiösen Staaten der Habsburgermonarchie und des Russländischen Reiches diskutiert. In diesem Zusammenhang haben wir die Funktion von Religion zur Legitimation imperialer Politik und zur Sakralisierung der eigenen Dynastie untersucht. Zugleich gingen wir der Frage nach, inwieweit Großreiche zu „Managern“ religiöser Vielfalt in ihren Gebieten avancierten, indem Minderheiten offiziell anerkannt und letztlich ihre Loyalität gegenüber dem Imperium gesichert wurde. Das Russländische Reich mit seiner sukzessiven Einführung von Konsistorialverfassungen für religiöse Minderheiten (außer dem Judentum) steht paradigmatisch für die utilitaristische Toleranzpolitik von Imperien im 19. Jahrhundert. Nicht zuletzt diente diese Religionspolitik im Zeichen des aufgeklärten Toleranzdiskurses den Großreichen dazu, potentielle Ressourcen zu mobilisieren (in Form von Steuereinnahmen oder Soldaten für die imperiale Armee). Der zweite Text von Karen Barkey thematisiert die Praxis der Toleranz im Osmanischen Reich, die der Aufrechterhaltung staatlicher Gewalt diente. Diese Praxis beschreibt Barkey als die der aktiven Grenzziehungen („boundary management“) zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen. Dieses „boundary management“ umfasste vier staatliche Techniken: Verfolgung, Vertreibung, Zwangsumsiedlung und Konversion. Die dritte Seminarsitzung schließlich widmete sich anhand zweiter kanonischer Texte von Antony Smith und Fredrik Barth der terminologischen Abgrenzung und inhaltlichen Schärfung von nationaler und ethnischer Identität. Im Gegensatz zu Smith geht Barth in seiner Definition von Ethnizität nicht von der Essenz einer Gruppe, sondern von deren Grenzziehungen gegenüber ihrer Umwelt aus.
Zum Abschluss des Tages fand ein Stadtrundgang durch Posen statt, der von der umfassenden stadtgeschichtlichen Expertise Professor Przemysław Matusiks begleitet wurde. Der Rundgang führte uns zum Posener Residenzschloss, dem Königsschloss, zur Synagoge und schließlich zum alten Rathaus der Stadt. Ebenso wie andere schlesische und polnische Städte durchlebte Poznań eine wechselhafte Geschichte zwischen preußischer Dominanz (1793-1918), Großpolnischem Aufstand (1918), der von der polnischen Staatlichkeit geprägten Zwischenkriegszeit (1918-1939) und nationalsozialistischer Herrschaft (1939-1945).

Der zweite Tag der Sommerschule begann mit einer Führung durch das sogenannte „Fort VII“, dem späteren „Konzentrationslager Posen“. Ursprünglich gehörte die als „Fort Colomb“ bezeichnete Anlage zum preußischen Festungssystem, das Poznań umgab. Seit Oktober 1939 fungierte die ehemalige Festungsanlage als Konzentrationslager. Es wurde im Nationalsozialismus sowohl als Übergangslager, als auch als Vernichtungsstätte genutzt. Einen besonderen Rang als Gedenkstätte der Opfer des Nationalsozialismus nimmt die Anlage aus dem Grund ein, weil 1939 dort zum ersten Mal eine „Probevergasung“ an psychisch Kranken durchgeführt wurde. Zahlreiche Massenexekutionen von Inhaftierten fanden in den Wäldern, die den Festungsbau umgaben, statt. Neben den Themen der Flucht und Vertreibung der Posener Bevölkerung wurden die nationalsozialistischen Verbrechen an Psychiatriepatienten in der Ausstellung des ehemaligen Konzentrationslagers behandelt.

Im Anschluss an den Besuch des Konzentrationslagers fanden wir uns zum vierten Panel zusammen, das den Zusammenhang von Nationalismus und Staatsbürgerschaft problematisierte. Der Aufsatz von Dieter Gosewinkel versuchte die Dichotomie zwischen einem westlich-liberalen Konzept der Nation im Sinne des ius soli und einem östlich-exklusiven Nationsverständnis im Sinne des ius sanguinis durch eine neue Lesart zu widerlegen: Weniger das Konzept der Nation, als vielmehr die Kontingenz historischer Ereignisse, kriegerischer Gewalt und territorialer Verschiebungen sei für den Grad der Exklusion und Inklusion im Staatsbürgerrecht entscheidend. Der zweite Text von Ulrike von Hirschhausen analysiert die Kriterien, die von der Lokalverwaltung des Habsburgerreichs zur Vergabe der Staatsbürgerschaft herangezogen wurden. Beide Aufsätze stellten den Konnex zwischen Nationsverständnis und Staatsbürgerschaft infrage und schärften zugleich die begriffliche Sensibilität für die Unterschiede von Nationenzugehörigkeit und Staatsbürgerschaft.

Der Abendvortrag „Das Überleben neu kartieren“ von Atina Grossmann, Professorin für European History and Gender Studies in New York, näherte sich aus einer kollektivbiographischen Perspektive einer verloren gegangenen Geschichte: Die vergessene Geschichte jener polnischen Juden, die während der Shoah in die Sowjetunion geflohen waren (bzw. schon zu Kriegsbeginn dorthin deportiert worden waren) und nach dem Krieg als DPs in der amerikanischen Besatzungszone ankamen. Dieses verborgene Kapitel jüdischer Geschichte – das Überleben polnischer Juden in Sowjetrussland und Zentralasien – veranschaulicht die Komplexität jüdischer Erfahrung von Verfolgung und Vertreibung während des Holocaust und führt zugleich die Totalität der nationalsozialistischen Vernichtung vor Augen. Vor dem Hintergrund zahlreicher berührender Bilder rekonstruierte Grossmann das Überleben polnischer Juden in Usbekistan und Kasachstan, später im Iran und Indien, und schließlich als Displaced Person unter der amerikanischen Besatzungsmacht. Nach 1939 und besonders im Zuge des Ostfeldzugs 1941, dem sogenannten „Unternehmen Barbarossa“, flohen zahlreiche jüdische und christliche Polen in die Sowjetunion. Dort angekommen wurden sie als „feindliche Ausländer“ nach Zentralasien deportiert oder schlossen sich der Anders-Armee an, die an der Seite der Roten Armee kämpfte. Ein Kristallisationspunkt dieser Vertreibungserfahrung war der Iran, wo im November 1943 die Konferenz von Teheran zwischen Briten, Amerikanern und Sowjets stattfand. Hier wurde die Invasion amerikanischer und britischer Truppen im Norden Frankreichs, die als D-Day in die Geschichte eingehen sollte, beschlossen. Ausgehend vom Iran desertierten jüdische Soldaten der Anders-Armee und flohen nach Palästina. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die (jüdischen) Polen, die in der Sowjetunion überlebt hatten, repatriiert. Nachdem jedoch 1946 erneut antisemitische Ressentiments in Polen entflammt waren, flohen die als „Asiaten“ bezeichneten polnischen Juden nach Deutschland in die amerikanische Besatzungszone. In den DP Lagern verschwieg ein Großteil dieser Gruppe, die rund 10 Prozent der überlebenden polnischen Juden ausmachte, ihre Geschichte – aus ganz unterschiedlichen Gründen: Etwa aus Angst, als ehemalige Sowjetbürger nicht in die USA emigrieren zu können.

Der dritte Tag der Sommerschule führte uns nach Wrocław (Breslau). Da auch Wrocław im Verlauf der Jahrhunderte mehreren Staaten und Mächten unterstand, bietet die Stadt ein anschauliches Beispiel für das komplexe Verhältnis von religiöser und nationaler Identität. Nachdem wir mittags in der Stadt angekommen waren, wurden wir sogleich von dem Historiker Robert Żurek empfangen. Er zeigte uns, wie sich die aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten angesiedelten, überwiegend katholischen Polen die Kirchenbauten der Stadt nach 1945 aneigneten. Nach einer kurzen Mittagspause wurden wir von Marcin Wodziński empfangen, der uns in die Geschichte des jüdischen Breslau einführte. Die Geschichte der Breslauer Juden geht auf das 13. Jahrhundert zurück. Hierauf verweist ein in den 1970er Jahren entdeckter jüdischer Grabstein aus dem Jahr 1203. Nachdem Heinrich IV. im Jahr 1290 den Breslauer Juden Privilegien verliehen hatte, kam es rund hundertfünfzig Jahre später, im Jahr 1453, zu einem großen Pogrom in Breslau, das durch den Vorwurf der Hostienschändung ausgelöst wurde. Das Vermögen der jüdischen Bevölkerung wurde hierbei konfisziert. Heute erinnert ein Friedensdenkmal auf dem Breslauer Marktplatz an das Pogrom aus dem 15. Jahrhundert. Erst im 17. und besonders 18. Jahrhundert begann jüdisches Leben in Breslau wieder aufzublühen. Dieser Wandel war darauf zurückzuführen, dass Juden das Recht bekamen, Messen in Breslau zu besuchen, die für den städtischen Handel zentral waren. Schrittweise wurden den jüdischen Händlern auch Besucherzeiten außerhalb der regulären Messezeiten genehmigt.

Den Abschluss der Tour bildete ein Besuch der 1829 im klassizistischen Stil erbauten Storch-Synagoge. Das jüdische Leben in Breslau erreichte seine Blüte im 19. Jahrhundert. Der 1838 nach Breslau berufene Rabbiner Abraham Geiger (1810-1874) wurde zum Initiator einer liberalen Reform im Judentum. Seitdem war die ansässige jüdische Gemeinde in zwei Lager geteilt, dem liberalen Lager unter Geiger und dem orthodoxen unter Salomo Tiktin (1791-1843). Diese Lagerbildung ging als Breslauer Rabbinerstreit in die Geschichte ein und kulminierte in einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Geiger und Tiktin. Das 1854 gegründete jüdisch-theologische Rabbinerseminar, das erste moderne seiner Art, nahm eine Mittelposition zwischen progressiven und orthodoxen Strömungen ein. Leiter des Seminars wurde Zacharias Frankel (1801-1875), der zudem die „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ herausgab. Während des November-Pogroms 1938 wurden alle jüdischen Schulen und Gebetshäuser mit Ausnahme der Storch-Synagoge zerstört. Sie wurde verschont, da man befürchtete, dass sich der Brand auf die benachbarten Häuer ausdehnen könnte. Über Jahrzehnte hinweg in desaströsem Zustand verharrend wurde die Storch-Synagoge in den 1980er Jahren umfassend renoviert. 1995 schließlich konnte die Storch-Synagoge wieder eingeweiht und der jüdischen Gemeinde in Breslau übergeben werden.

Während der letzten beiden Tage der Sommerschule fanden die Vorträge und Diskussionen in dem altehrwürdigen Gebäude der „Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaft“ (Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk) statt. Am Donnerstag, dem vorletzten Tag, widmeten wir uns erneut den Seminarthemen. Die fünfte Seminarsitzung zu „Konfession, urbaner Raum und Nation“ befasste sich mit der Frage, inwiefern die Urbanisierung zum Wandel religiöser Kulturen im 19. und 20. Jahrhundert beitrug. Der Aufsatz von Anthony Steinhoff versuchte die Annahme zu widerlegen, dass die Modernisierung im urbanen Raum zwangsläufig zur Säkularisierung der Gesellschaft beitrug. Das Gegenteil war der Fall: Mit ihrer pluralisierten Massenpresse, modernen Kommunikationsformen, neuen Infrastrukturen und der komplexen Vereinslandschaft avancierte die Stadt zu einem Katalysator religiösen Wandels. Die klassische Nähe zur Gemeinde wurde in der Stadt durch neue Vergemeinschaftungsformen wie dem Vereinswesen oder durch imaginierte Gemeinschaften abgelöst, die in der konfessionellen Presselandschaft konstituiert wurden. Ferner entwickelten sich im urbanen Raum ganze Ökonomien, die sich auf den Heiligenkult und den Kult der Dynastie spezialisierten – etwa in Gestalt von Devotionalien, Souvenirs, Andenken und religiöser Unterweisungsliteratur. Ein Aufsatz von Daniel Unowsky hat am Beispiel von Kaiserjubiläen in der späten Habsburgermonarchie die enge Verflechtung von urbaner Populärkultur, dynastischer Symbolsprache und populärem Patriotismus demonstriert.

Im sechsten Panel zum Thema „Religion und Wirtschaft“ beschäftigten wir uns mit einem Text von Rudolf Jaworski, in dem es um Nationalitätenkampf und Konkurrenzmechanismen polnischer Händler und Gewerbetreibender in der preußischen Provinz Posen zwischen 1871 und 1914 ging. Wie grenzte sich die polnische Minderheit in der Provinz Posen gegenüber der preußischen Hegemonie ab und welche Mechanismen der Solidarisierung sind zu beobachten? Der zweite Artikel stellt eine Vergleichsstudie zwischen der Konfiszierungspolitik im Osmanischen Reich gegenüber den Armeniern sowie derjenigen des Russländischen Reichs gegenüber den Juden im Jahr 1915 dar. Hierin wurde argumentiert, dass in beiden Fällen ökonomische Interessen zum Genozid beitrugen, die wiederum mit dem Analysekonzept des „economic nationalism“ erklärt wurden. In der daran anknüpfenden Diskussion wurde die Erklärungsleistung des Begriffs „economic nationalism“ hinterfragt. Kann die Entstehung und Dynamik von Massengewalt tatsächlich auf ökonomische Motive zurückgeführt werden? Zudem diskutierten wir den Einfluss von nationalen und ethnischen Stereotypen, wie etwa das Bild der „slawischen Unproduktivität“ oder des „polnischen Handwerkers“ auf wirtschaftlich begründete Nationalitätenkonflikte und die Persistenz solcher Vorstellungen bis zum heutigen Tag.

Das siebte Panel war mit dem Titel „Religion auf dem Land“ überschrieben. Der Aufsatz von Holm Sundhausen befasste sich mit der Genese des serbischen Nationalismus auf dem Land. Eine zentrale Rolle für die Verbreitung des serbischen Nationalismus attestiert Sundhausen den städtischen Eliten. Wenngleich diese Eliten mitunter deutsche und französische Nationalkonzepte in den ländlichen Raum des Südbalkans importierten, stand der aufkommende serbische Nationalismus mit dem übernationalen Selbstverständnis der Orthodoxie im Widerspruch. In diesem Kontext identifizierte er drei legitimierende Narrative, die sich im serbischen Nationalismus manifestierten: Erstens die Exklusion der Muslime aus dem jeweiligen Volk, zweitens das Volk als eine zivile, überregionale Gemeinschaft und drittens die Theorie der verloren gegangenen Sprache, die den impliziten Widerspruch zwischen ethnischer Reinheit und überregionaler territorialer Ausdehnung auflösen sollte. Der zweite Text thematisierte die Transformation und Nationalisierung der ruthenischen und polnischen Bauernschaft um 1900, die insbesondere durch eine systematische Aufklärungsarbeit auf dem Land katalysiert wurde. Diese Transformationsprozesse umfassten Selbsthilfe-Initiativen (wie Bildungs- und Leseräume), die Entstehung korporativer Bewegungen (Sparkassen, Kreditbanken) und die Hinwendung zum Handel; zugleich riefen diese neuen Nationalismen auf dem polnischen wie ruthenischen Land antisemitische Ressentiments hervor, die durch Stereotype wie den jüdischen Wucher gespeist wurden. Die Diskussion behandelte zum einen die Frage, inwiefern Nationalisierung nicht auch mit einer Modernisierung von Religion einherging. Ferner wurde die Gegenüberstellung einer aktiven urbanen Elite, die den nationalen Diskurs steuert, und einer passiven ländlichen Bevölkerung kritisch hinterfragt.

Am letzten Tag schließlich befassten wir uns mit dem Thema „Religion und Gender“, wobei uns ein Aufsatz von Ute Planert als Grundlage diente. In ihrem Aufsatz „Vater Staat und Mutter Germania“ untersucht Planert die Feminisierung der Nation als erweiterte Familie im 19. Jahrhundert. Zugleich wird aufgezeigt, wie Frauen durch patriotische Vereine, Lotterien und Spendenaktionen ihre politischen Handlungsräume stetig ausweiteten, indem sie selber Vermögen verwalteten. Während der Staat im nationalen Diskurs maskulin konnotiert war, avancierte das Weibliche zum Inbegriff nationaler Kultur und Sitte. In der Diskussion wurde kritisch angemerkt, dass sich der Aufsatz zu sehr auf Formen der Repräsentationen und des Diskurses fokussiere, dabei jedoch Dimensionen der Rechtsordnung und sozialgeschichtliche Differenzierungen vernachlässige. Dass Religion, Nation und Gender in ihrer Wechselwirkung stärker zusammengedacht werden müssten, stellt ein wichtiges Desiderat der Nationalismusforschung dar, so die Bilanz der Diskussion.

Die Abschlussdiskussion versuchte das Wechselverhältnis von Nation und Religion in seinen Grundzügen zu bündeln. Hierbei wurde insbesondere der Konstruktcharakter des Nationalen als „vorgestellte Gemeinschaft“ hervorgehoben. Mit Blick auf die Religion haben wir ähnliche Mechanismen beobachten können: Auch sie konstruiert über Liturgie, Rituale und Schrift eine „imagined community“ und erfüllt eine legitimierende ebenso wie sinnstiftende Funktion. Insgesamt hat die diesjährige Sommerschule viele fruchtbare Diskussionen hervorgebracht, welche die historische Sensibilität für die gegenseitige Durchdringung von Religion und Nation im „langen“ 19. Jahrhundert geschärft haben.

Christoffer Leber