Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Bericht Sommerschule "Religiöse Eliten – Priester, Pfarrer, Bischöfe, Rabbiner als Inhaber religiösen Kapitals"

Prag, 23. bis 28. Mai 2016

 

Den vollständigen Bericht finden Sie hier zum Download

Am für die diesjährige Sommerschule zentralen Begriff des religiösen Kapitals schieden sich bis zuletzt die Geister: Ein Seminarteilnehmer plädierte in der Abschlussdiskussion am späten Donnerstagnachmittag dafür, stattdessen von kulturellem Kapital zu sprechen. Denn die Priester, Bischöfe und Rabbiner hätten weit über die pastorale Ebene heraus Einfluss sowohl auf die Gläubigen als auch die Gesellschaft insgesamt gehabt. Andere Stimmen im Plenum standen dem Kapitalbegriff kritisch gegenüber und sprachen stattdessen von Gestaltungs- oder Wirkungskraft geistlicher Eliten.

Gerade in den unterschiedlichen Ansichten bestätigte die Schlussrunde aber zweierlei: Zum einen war nach den zahlreichen präsentierten Fallbeispielen unbestritten, dass die religiösen Würdenträger nicht nur geistig-moralischen Einfluss besaßen, sondern sich als gestaltende Akteure in der Politik, im Bildungswesen und sogar in der Wirtschaft einmischten. Zum anderen schien das gewählte Thema auch nach einer intensiven Woche noch genug offene Fragen aufzuwerfen, über die es sich zu diskutieren lohnte.nach oben

Kleine Malheurs, aber kein „Fenstersturz“

Damit am Sonntagvormittag niemand den Flixbus nach Prag verpasst, versammelte die umsichtige Koordinatorin Marie Grünter die Münchner Kollegiatinnen und Kollegiaten eine halbe Stunde vor Abfahrt am Busbahnhof. Doch auch die beste Organisation konnte nicht verhindern, dass der gestrenge Steward einer Teilnehmerin mangels Personalausweis den Einstieg verwehrte. Glücklicherweise war die Gruppe nach einem ersten Abendessen in Prag wieder vollzählig. Dabei gab es übrigens die traditionell böhmische „Svíčková“ (Lendenbraten mit Knödeln und Sahnesauce). Im zweckmäßigen, aber sauberen und zentral gelegenen Hotel sorgte zunächst für Erstaunen, dass die Teilnehmenden in den Doppelbetten buchstäblich „unter einer Decke stecken“ sollten. Nach Vorsprache bei der Rezeption konnte aber auch dieses Malheur bereinigt werden. Abgesehen von einem tschechischen Kollegiaten, der wegen einer Haseninvasion auf dem familiären Weingut kurzfristig abreisen musste, verlief die Seminarwoche in Prag ruhig und ohne weitere Zwischenfälle. Anders als einige Münchner Kollegiaten im Vorfeld spekulierten, gab es nach 1419, 1618 und 1948 auch keinen Vierten Prager Fenstersturz. Die Fenster im siebenstöckigen Hotel konnte man nämlich bloß kippen.

Montag: Einführung, „Polenfrage“ und Stadtführung

Nachdem Dr. Luboš Velek die deutschen, tschechischen und polnischen Teilnehmenden in den Räumlichkeiten des Masaryk-Insitituts begrüßte, stellte Julia Bloemer Olaf Blaschkes Text über „Die Kolonisierung der Laienwelt. Priester als Milieumanager und die Kanäle klerikaler Kuratel“ vor. Die folgende Diskussion ergab, dass der Autor Verdienste in der empirischen Untersuchung des klerikal-ultramontanen Milieus im Deutschland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aufweist. Von der römisch-päpstlichen Linie abweichende Strömungen im zeitgenössischen Katholizismus werden von Blaschke aber ausgeblendet. Danach referierten Fabian Poetke und Christoffer Leber über den im Jahre 1919 verfassten Text „Die Polenfrage. Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat“ von Ludwig Bernhard. Dabei geht es um die entscheidend von katholischen Priestern geprägte sozioökonomische Emanzipation der Polen unter der preußischen Herrschaft im späten 19. Jahrhundert.

Nach dem Mittagessen kamen die Teilnehmenden der Sommerschule in den Genuss einer Stadtführung. Anders als die zahlreichen Touren, welche die Massen per Segway zwischen Sehenswürdigkeiten und Touristenfallen hin und her jagten (nur drei Tage nach Abschluss der Sommerschule verbot der Prager Stadtrat die nervtötenden Stehroller), bot die Führung des Kollegiaten Jan Zachariáš einen tieferen Einblick in Kunst und Architektur im Dienste der Rekatholisierung. Nach Zwischenhalten in mehreren Kirchen, auf der Karlsbrücke und auf der Prager Burg, fing es beim Abstieg von der Burg an zu tröpfeln, bevor auf den Platzregen ein veritabler Hagelsturm folgte. Nach einer halben Stunde des Ausharrens im Eingang einer überfüllten Bierkneipe, endete der Abend im sehr empfehlenswerten Restaurant „Mlejnice“.

Dienstag: Religiöse Eliten in Nationalbewegungen und jüdisches Pragnach oben

Den Auftakt in den Dienstag machte eine Diskussion über den Text „Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa“ von Martin Schulze Wessel. Die Diskutanten stimmten mehrheitlich mit dem Autor überein, dass der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts nicht als „Ersatzreligion“ gedient hat, sondern dass sich die Religion selbst mithilfe des Nationalismus modernisierte. Danach stellte Alina Kucharska den Text „Die vereinigten Erzbistümer Gnesen und Posen“ von Erwin Gatz vor. Dabei stand das spannungsreiche Verhältnis der preußischen Obrigkeit und des zwischen Staatstreue und Sympathie für die polnische Nationalbewegung lavierenden Klerus im Mittelpunkt. Tomasz Rogoziński präsentierte den Text „Die polnischen Katholiken und der preußische Staat zwischen der Revolution von 1848 und dem Kulturkampf“ von Przemyslaw Matusik. Dabei ging es um die Genese des polnischen Ultramontanismus im Exil. Die polnischen Emigranten entschieden sich infolge von Verarmung und Entfremdung für die konfessionelle Schlussfolgerung und nicht für nationale oder sozialrevolutionäre Entwürfe. Zum Abschluss der Sitzung stellte Dr. Rudolf Svoboda sein Projekt zum Thema „Der tschechisch-patriotische Bischof Jan Valerián Jirsík“ vor.

Am Nachmittag bot Denisa Glacová vom Jüdischen Museum eine hochinteressante Führung durch das jüdische Prag: Zunächst besuchten die Kollegiatinnen und Kollegiaten die im Jahre 1535 erbaute Pinkas-Synagoge. Sie wurde in den späten 1950er-Jahren zu einer Gedenkstätte für die rund 80‘000 Shoah-Opfer in Böhmen und Mähren umfunktioniert. Besonders eindrucksvoll waren die in den Wänden eingravierten Namen der Opfer und die Ausstellung von 1942 bis 1944 im Ghetto Theresienstadt entstandenen Kinderzeichnungen. Danach führte der Weg vom Alten Jüdischen Friedhof über die Maisel-Synoge hin zur Spanischen Synagoge. Letztere ist eine 1868 im maurischen Stil erbaute Reformsynagoge. Sie weist eine sehr gute Akustik auf, da das Reformjudentum das musische Element in die jüdische Liturgie einbrachte.

Mittwoch: Multikonfessionelles Zusammenleben und Evangelische Gemeinde

Die Seminarsitzung am Mittwoch war dem Zusammenleben der verschiedenen christlich-orthodoxen Konfessionen in Rumänien und in der Ukraine gewidmet: Niklas Zimmermann referierte über den Text „Multikonfessionalität und neue Staatlichkeit: orthodoxe, griechisch-katholische und römisch-katholische Kirche in Siebenbürgen und Altrumänien“ von Hans-Christian Maner. Dabei stand die Spannung zwischen einer auf die orthodoxen „Bruderländer“ ausgerichteten rumänisch-orthodoxen Kirche und einer die „Latinität“ betonenden griechisch-katholischen Kirche im Mittelpunkt. Petr Husák stellte den Text „Feind und Opfer zugleich. Die unierte Kirche aus Sicht der Orthodoxen in der Ukraine 1830-1920“ von Ricarda Vulpius vor, welcher von der Vermittlung russophiler wie ukrainophiler Geschichts- und Nationsdiskurse durch orthodoxe Geistliche handelt. Die Texte zeigten, dass vermeintlich in Stein gemeißelte Profilierungen der Konfessionen sich erst im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hatten – und der Findungsprozess oftmals stärker opportunistischen als ideologischen Motiven folgte.

Der Mittwochnachmittag war dem Besuch bei der Evangelischen Kirche der Bömischen Brüder gewidmet. Nach einer historischen Einführung von Dr. Tomáš Pavlíček und Ester Pučálková erörterte Pastor Pavel Černý die Stellung der evangelischen Kirche im heutigen Tschechien. Bemerkenswert dabei ist die Offenheit zur ökumenischen Zusammenarbeit, was jedoch wohl damit zusammenhängt, dass in einem mehrheitlich konfessionslosen Land sämtliche Kirchen aus einer minoritären Position heraus agieren. Den Abschluss des Tages bildete ein Vortrag von Dr. Miroslav Kunštát zum Thema „Theologie und Wissenschaft. Fallstudie zur Theologen und anderen Geistlichen in den wissenschaftlichen Institutionen in den böhmischen Ländern“. Auch andere Diskussionen wurden dank der Sachkompetenz der tschechischen Dozierenden oftmals mit Fallbeispielen aus Böhmen und Mähren angereichert, sodass die Kollegiatinnen und Kollegiaten auch einiges über das Gastgeberland erfuhren.

Donnerstag: Religiöse Elitenbildung in Judentum, Orthodoxie und Katholizismusnach oben

Mit Seminarprogramm von 9 bis 18 Uhr wurde es am Donnerstag noch einmal richtig intensiv: Den Auftakt machte Josef Herbasch mit seiner Vorstellung zum Text „Das Rabbinerseminar in Wilna (1847-1873). Zur Geschichte der ersten staatlichen höheren Schule für Juden im Russischen Reich“ von Verena Dohrn. Dabei ging es um die staatlich geförderte Ausbildung eines Reformjudentums, welches von den jüdischen Gemeinden jedoch nicht anerkannt wurde. Danach präsentierte Dana von Suffrin den Text !Modern Rabbinical Training Intercultural Invention and Political Reconfiguration, in: Rabbi – Pastor –Priest. Their Roles and Profiles through the Ages” von Carsten Wilke. Im Mittelpunkt steht dabei die Spaltung der US-amerikanischen Juden in Traditionalisten und Modernisten und die Unterscheidung zwischen Strategien der Assimilation und der Akkulturation. Fabian Weber stellte den aus dem Jahre 1836 stammenden Quellentext „Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät – ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit“ von Abraham Geiger vor. Der frühe Vordenker des deutschen Reformjudentums wollte die jüdische Theologie weg vom bisherigen reinen Talmud-Studium und hin zu einer praxisnahen religiösen Wissenschaft entwickeln.

Noch vor dem Mittagessen wandte man sich wieder dem christlich-orthodoxen Raum zu: Tomáš Zouzal und Jan Zachariáš stellten den Text „The Parish Clergy in Nineteenth-Century Russia. Crisis, Reform, Counter-Reform” von Gregory L. Freeze vor. In der folgenden Diskussion stand die Frage im Zentrum, inwiefern die Priesterausbildung im Zarenreich mit derjenigen in Mittel- und Osteuropa vergleichbar war. Danach referierte Ester Pučálková über den Text „The Church Schools and Seminaries in the Russian Revolution of 1905-1906”, der die Rolle von Lehrern und Schülern kirchlicher Ausbildungsstätten während der ersten Russischen Revolution erörtert. Vor der Abschlussdiskussion präsentierten Jana Černá und Claus Spenninger den Text „Vom Seelenhirten zum Wegführer. Sondierungen zum bischöflichen Selbstverständnis im 19. und 20. Jahrhundert“ von Martin Leitgöb. Sowohl die Referierenden als auch Prof. Franz-Xaver Bischof zogen ein kritisches Fazit zu diesem Text, da er mit den außerordentlich papsttreuen Germanikerbischöfen nur einen kleinen Teil des römisch-katholischen Klerus berücksichtigt und die Quellen nicht genügend einordnet.

Freitag und Samstag: Besichtigungen, Freizeit, Heimfahrt

Am Freitagvormittag führten Dr. Miroslav Kunštát und Dr. Tomáš Pavlíček die Teilnehmenden zunächst ins Seminargebäude in Dejvice und in das tschechoslowakische Kolleg für Erziehung der Geistlichen. Diese beiden historischen Ausbildungsstätten befinden sich in der Nähe der Prager Burg. Danach ging es wieder zurück in die Altstadt, wo die beiden Referenten durch das im 16. Jahrhundert als Jesuitenkolleg errichtete Klementinum und die dazugehörigen zwei Barockkirchen führten.

Der Nachmittag stand den Teilnehmenden zur freien Verfügung: Einige von ihnen ließen es sich aber nicht nehmen, die 1906 geweihte Jerusalem-Synagoge zu besichtigen. Im Inneren der Reformsynagoge zeigt die zeitgeschichtliche Ausstellung „Die Jüdische Gemeinde in Prag von 1945 bis heute“ eindrucksvoll, wie das jüdische Leben in der Tschechoslowakei der 1950er-Jahre mithilfe massiver antisemitischer Propaganda marginalisiert wurde, bevor dieselbe kommunistische Herrschaft ab den 1960er-Jahren das jüdische Prag zur Touristenattraktion machte. Den Abend ließen die Münchner Teilnehmenden im vegetarischen Restaurant „Estrella“ ausklingen. Nach einer Woche waren auch die größten Anhänger der deftigen böhmischen Küche einer zwischenzeitlichen Abwechslung nicht abgeneigt. Am Samstagvormittag trat die Gruppe die Heimreise an: Im proppenvollen Flixbus nach München wurde klar, welche Klientel zum Leidwesen der Einheimischen nach wie vor einen großen Teil der Prag-Reisenden ausmacht: Die Reisezweck der trinkfesten Jungs aus den Tiefen des deutschen Amateurfußballs war weder zu übersehen noch zu überhören.

Bericht von Niklas Zimmermannnach oben