Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Bericht Sommerschule "Religiöse Vielfalt in polyethnischen Herrschaftsverbänden und ihre Transformationen im 20. Jahrhundert"

Istanbul, 9.-16. September 2012

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Ein Charakteristikum der religiösen Entwicklung im modernen Europa ist die zunehmende Pluralisierung der religiösen Landschaft. Für den modernen freiheitlichen Verfassungsstaat stellt sich damit die nicht immer leicht zu beantwortende Frage, wie die religiöse Vielfalt zu verwalten ist. Schließlich gilt es, verschiedene Güter gegeneinander abzuwiegen, wie zuletzt in der Beschneidungsdebatten, wo das Gut der Religionsfreiheit gegen das Gut der körperlichen Unversehrtheit einander gegenüber gestellt wurden.

Für ein Graduiertenkolleg, welches sich mit religiösen Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigt, liegt es daher nahe, der Frage nach dem Umgang mit religiöser Vielfalt eine eigene Sommerschule zu widmen. Die Frage wurde in historischer Perspektive gestellt, indem multireligiöse und polyethnische Herrschaftsgebilden in den Blick genommen wurde ebenso wie die Frage, wie darin religiöse Vielfalt verwaltet wurde. Dazu wurde ein Ort gewählt, wie er passender kaum hätte sein können: Istanbul, die Stadt, die Europa und Asien miteinander verbindet, und in der sich das Mit- und Gegeneinander verschiedener Religionsgruppen und Weltentwürfe in wechselnden Konstellationen und politischen Kontexten durch die Geschichte hindurch beobachten und beschreiben lassen.

Die Sommerschule stellte in zweierlei Hinsicht ein Novum dar: Ort und Thema waren hier erstmals unmittelbar aufeinander bezogen. Die Texte zu der mit „Religiöse Vielfalt in polyethnischen Herrschaftsverbänden und ihre Transformationen im 20. Jahrhundert“ betitelten Sommerschule boten neben landeskundlichen Informationen Analysen der türkischen Gegenwart, der osmanischen Vergangenheit sowie Beiträge zu der Frage nach Religion im kemalistischen Staat und ihrer Bedeutung im Osmanischen Reich, sodass das Gelesene den Blick für die Stadt schärfte und umgekehrt Gesehenes in die Textdiskussionen einfloss. Zweitens war zum ersten Mal der Islam im Zentrum der Aufmerksamkeit. Alt bewährt war dagegen die Struktur des Programms. Wie auch in den beiden Sommerschulen zuvor bestand es aus Textreferaten, Vorträgen und Exkursionen. Um in die Textdiskussion einzuleiten, hatten wie immer deutsch-tschechische Referatsgruppen gemeinsam einen Vortrag zu einem ausgewählten Text vorbereitet. Die Kommunikation erfolgte dabei über E-Mail, da es zum persönlichen Wiedersehen erst spät am Anreisetag oder früh morgens beim ersten Kaffee des ersten Seminartags kam. nach oben

Untergebracht waren die aus Prag und München angereisten Doktorandinnen und Doktoranden, Dozentinnen und Dozenten sowie Koordinatorinnen ganz in der Nähe des verkehrseichen Taksim-Palast in Beyoğlu. Von dort aus war der Tagungsort, je nachdem, welchen der verschlungenen Wege man wählte, in zehn bis fünfzehn Minuten zu erreichen. Anders als bei den Sommerschulen zuvor  waren es diesmal keine Universitätsräume, die die StipendiatInnen und DozentInnen beherbergten, sondern ein Restaurant. Das mag sich zunächst kurios anhören, erklärt sich aber schnell. Tagungsräume in einer Universität hätten jeden Tag weite Strecken mit öffentlichen Verkehrmitteln durch die Metropole bedeutet. Um das zu vermeiden, war das Seminar in einem zentral gelegenen Tagungshaus untergebracht. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts hatte das Gebäude als Schule für italienische Arbeiterkinder gedient. Heutzutage ist es ein Restaurant und bietet daneben Veranstaltungsräume für wissenschaftliche Tagungen und Veranstaltungen kleinerer oppositioneller Parteien.

Der erste Seminartag begann mit der Präsentation und Diskussion einer geschichtswissenschaftlichen Neuerscheinung: Stefan Plaggenborgs Buch „Ordnung und Gewalt“, in welchem er Kemalismus, Sowjetsozialismus und Faschismus komparativ hinsichtlich ihrer Funktionszusammenhänge untersucht und dabei unter anderem nach dem Ort der türkischen Geschichte im 20. Jahrhundert fragt. Das Kapitel zu Staat und Religion stellten Magdalena Myslivcová, Heiko Schmidt und Kathrin Linnemann vor. Während in Italien der Faschismus zur conciliazione zwischen Kirchenstaat und italienischem Nationalstaat führte, begegnete der Sowjetsozialismus der orthodoxen Kirche mit Repressionen und Verfolgungen. Relativ konfliktfrei, so scheint es in den Argumentationen von Plaggenborg, verlief hingegen der Prozess der Säkularisierung in der kemalistischen Türkei.

Einen weiteren Vergleich präsentierten anschließend Marcela Zemanová, Marek Vlha und Jan Heller mit einem Text von Fikret Adanir über religiöse Minderheiten und ethnische Gruppen in Imperien, in dem der Autor darstellt, wie das Habsburgerimperium und das Osmanische Reich mit religiösen Minderheiten umgegangen sind. Als roter Faden zieht sich dabei die These durch den Text, dass dies dem Osmanischen Reich besser – weil toleranter – mit den Minderheiten als Österreich umgegangen sei. nach oben

Nachdem mit den Textreferaten und -diskussionen schon unmittelbar die Geschichte des Osmanischen Reiches und seinem Nachfolgestaat angesprochen worden war, war die Spannung groß, dem Niederschlag dieser Geschichte im städtischen Raum nachzugehen. Gestärkt mit einem Mittagsmahl, welches Einblicke in die türkische Küche gewährte, begab sich die Gruppe in das Herz der Istanbuler Altstadt, in das Stadtviertel Sultanahmet. Dort, wo sich einige der bekanntesten Baudenkmälern Istanbuls wie die blaue Moschee, der Topkapipalast und die Hagia Sophia befinden, machten die Sommerschüler die Bekanntschaft eines neuen Stipendiaten: Cem Kara. Der junge Historiker, der ab dem Wintersemester 2012/13 in München seine Forschungen über Kulturkontakte zwischen einem Derwischorden und dem modernen Europa im 19. Jahrhundert fortsetzen wird, forschte im September noch am in Istanbul ansässigen deutschen Orientinstitut. Von seinen reichen Ortskenntnisse profitierten die TeilnehmerInnen der Sommerschule, die Cem Kara angefangen am ehemaligen Hippodrom, wo sich heute noch einige Obelisken und ihnen gegenüber der Kaiser-Wilhelm-Brunnen befinden, durch die Straßen der Altstadt und ihren Sehenswürdigkeiten führte, zum Topkapi-Palast, durch den Gülhane Park und zur Hohen Pforte. Einen ersten Eindruck vom islamischen Sakralbau bekamen die SommerschülerInnen durch den Besuch der Sultanahmet Moschee, die vielen Besuchern wegen der vielen blauen Keramiken als Blaue Moschee in Erinnerung bleibt. Nach dem langen, informativen Spaziergang löste sich die große Gruppe in kleine Grüppchen auf, die den Tag mit lokalen Spezialitäten oder dem heimischen Efes-Bier ausklingen ließen.

Mit der Erkundung Istanbuls fuhr die Reisegruppe gleich am Dienstagmorgen fort. Am Goldenen Horn traf sie die erfahrene Fremdenführerin Ebru Göhteke von der Istanbuler Universität, die der Gruppe das griechische und das jüdische Istanbul zeigte, dessen Spuren vor allem in den am Goldenen Horn gelegenen Stadtteilen Balat und Fener zu finden sind. Ebru Gökteke führte die Teilnehmer-Innen der Sommerschule unter anderem in das griechisch-orthodoxe Patriarchat, vorbei an der Ahrida-Synagoge, von der es heißt, dass hier Sabbatai Zvi bei seinem Besuch in Istanbul gebetet haben soll, und in die auf der anderen Seite des Goldenen Horns gelegene Neve Salom Synagoge, die 1986 und 2003 Ziel terroristischer Anschläge geworden war. Entsprechend aufwendig waren die dortigen Sicherheitsvorkehrungen, die die Besucher durchlaufen mussten, bevor sie das Innere der Synagoge, deren Bau in den 1930ern begonnen und 1951 fertig gestellt worden war, besichtigen konnten. nach oben

Nach einem gemeinsamen Mittagessen am Tagungsort wurden die Seminarssitzungen fortgesetzt. Heiner Grunert und Prokop Siwek meisterten die anspruchsvolle Aufgabe, die nach dem langen Spaziergang erschöpfte Gruppe aus dem Mittagstief zu holen, indem sie einen Text von Gudrun Krämer über die Religiösen Minderheiten in Städten des Mittleren Ostens im 19. Jahrhundert vorstellten. Krämer fragt darin nach sozialen und physischen Grenzen in der sozialen Interaktion zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen und nach deren Modifikationen im Laufe des 19. Jahrhunderts.

Nach einer Kaffeepause hielt Luboš Kropáček, Dozent der Prager Gruppe und Experte für islamische Studien, einen instruktiven englischsprachigen Vortrag über religiöse und ethnische Diversität in den muslimischen Migrantengruppen in Europa, der den Bogen bis in die unmittelbare Gegenwart spannte.

Der Mittwochvormittag begann wiederum mit einem Expertenvortrag: Paolo Girardelli von der Boğaziçi Universität stellte anhand seines mit vielen visuellen Beispielen illustrierten Vortrags dar, wie katholische Räume im Osmanischen Reich geschaffen, erhalten und gestaltet wurden. Im Anschluss an seinen Vortrag führte er die Gruppe durch die Süleymaniye-Moschee, die aus verschiedenen Gründen eines der Wahrzeichen Stadt darstellt: Auf einem der sieben Hügel gelegen ist sie vielerorts sichtbar, und auch aus der Nähe betrachtet ist die Moschee, die im Auftrag von Sultan Süleyman von Mimar Sinan, einem der bekanntesten islamischen Architekten, in nur sieben Jahren errichtet wurde, mit ihren vier Minaretten und dem weiten Innenraum sehr beeindruckend. Zu der Moschee gehört ein Gebäudekomplex mit verschiedenen Einrichtungen, beispielsweise einem Krankenhaus, einem Friedhof, einem Badehaus und auch mit einem Restaurant, wo die Gruppe zu Mittag speiste. Der Nachmittag stand zur freien Verfügung und wurde zu Erkundigungen auf eigene Faust und dem Austesten des eigenen Verhandlungsgeschicks auf dem Großen Basar genutzt. nach oben

Am Abend waren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in das Orient-Institut eingeladen, dessen Arbeit ihnen der Leiter Richard Wittmann vorstellte. Anschließender Höhepunkt des Abends war der Vortrag von Michael Thumann, Nahostkorrespondent der „Zeit“, zu dem das Orientinstitut gemeinsam mit dem Graduiertenkolleg eingeladen hatte. Zu den Ausführungen über Transnational Relations of Conservative and Religious Parties in the Middle East waren auch viele externe ZuhörerInnen gekommen, sodass in dem Vortragssaal jeder Platz belegt war. Beim anschließenden Empfang bestand Gelegenheit, den gigantischen Ausblick vom Balkon des Instituts auf den Bosporus zu genießen und dabei mit internationalen Studentinnen und Studenten sowie DozentInnen der verschiedenen Istanbuler Hochschulen ins Gespräch zu kommen.

Der Donnerstag begann mit einer Seminarsitzung, in der Tomáš Pavlíček und Johannes Gleixner den Text von Marc Baer über The Double Bind of Race and Religion vorstellten. Baer behandelt darin die kryptojüdische Sekte der Dönme als einen Grenzfall von staatsbürgerlichen Identitäts- und Loyalitätserwartungen. Denn sie praktizierten nach außen den Islam, verstanden sich nach innen aber weiterhin als Juden. Denn mit Entstehung der modernen Republik der Türkei wurde die religiöse Uneindeutigkeit der Dönme, die im Osmanischen Reich nicht die Aufmerksamkeit der osmanischen Autoritäten auf sich gezogen hatten, zu einem Problem, weil sich weder ihre ethnische noch ihre religiöse Identität eindeutig festlegen ließen.

Um das Schicksal von Christen im reformierten Osmanischen Reich ging es in dem anschließenden Vortrag von Vangelos Kechriotis von der Boğaziçi Universität. Am Nachmittag schaute sich die Gruppe die Hagia Sophia an, Pflichtbesuch eines jeden Istanbulbesuchs und eine eindrucksvolle Dokumentation der religiösen Geschichte des früheren Konstantinopels und des späteren wie heutigen Istanbuls: einst eine christliche, spätantike Kirche, nach der osmanischen Eroberung in eine Moschee transformiert, heute – durch Mustafa Kemal – ein Museum, in dem Mosaiken mit christlichen Darstellungen neben arabischen Schriftzeichen zu sehen sind. Dieser status quo ist nicht unangefochten: Heute werden Stimmen laut, die die Musealisierung für einen großen Fehler halten und die Hagia Sophia weiter als eine Moschee sehen wollen.

Der letzte Seminartag wandte sich noch einmal der Pracht und dem Untergang des Osmanischen Reiches zu. Die Textdiskussion beschäftigte sich mit einem Urgestein der Nah- und Mittelostforschung: Bernhard Lewis. Seinen Text über die Entstehung der modernen Türkei stellten Adam Dobeš, Carola Franson und Philipp Lenhard vor. In dem Text stellt Lewis, der an langfristigen Entwicklungsbögen interessiert ist, hinsichtlich des Endes des Osmanisches Reiches die Frage „What went wrong?“ und stellt die These auf, dass es eine besondere Form des Islams gewesen sei, die zum Zerfall des Osmanischen Reiches geführt habe. nach oben

Gedanklich zurück in die Zeit osmanischer Großmachtstellung führte die Besichtigung, die am Nachmittag auf dem Programm standen: Ebru Gökteke führte durch den Topkapi-Palast. Die ehemalige Residenz der osmanischen Sultane stellt eine Stadt in der Stadt dar und bezeugt mit seiner Pracht und seiner Weitläufigkeit die ehemalige Machtfülle und Potenz der osmanischen Herrscher.

Nach dem dichten und facettenreichen Programm der Studienwoche teilten alle TeilnehmerInnen eine Feststellung: Obwohl sie in der einen Woche viel von der Metropole am Bosporus gesehen haben, so ist gleichzeitig auch vieles unentdeckt geblieben. Die Absicht, noch einmal in die Stadt reisen zu wollen, äußerte mehr als ein Teilnehmer. Doch erst einmal hieß es Abschied nehmen, nicht nur von Istanbul, sondern auch voneinander, denn der nächste Tag würde die tschechische und die deutsche Gruppe wieder auseinanderführen. Um die inspirierende und eindrucksvolle Zeit gemeinsam ausklingen zu lassen, traf sich die Gruppe zu einem gemeinsamen Abendessen in einem türkischen Restaurant. Dieses Treffen nahmen Dozenten und Doktoranden auch zum Anlass, den beiden Damen zu danken, die die Sommerschule so hervorragend organisiert hatten: Laura Hölzlwimmer und Sigita Ngoue. Alles verlief so reibungslos, dass es für viele kaum vorstellbar war, dass die beiden noch nie zuvor in Istanbul waren. Für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer war der Aufenthalt in der Stadt eine große und lehrreiche Bereicherung. Die Studienwoche hat ebenso viele neue Erkenntnisse und Einsichten mit sich gebracht, wie neue Fragen aufgeworfen, und so viele Anregungen für die weitere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem großen Fragenkomplex zu Religion im modernen Europa mit sich gebracht.

Kathrin Linnemann