Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts
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Tagungsbericht

Strukturelle Bedingungen und Konfliktfelder religiöser Vergemeinschaftung

Veranstalter: Deutsches Historisches Institut Rom, Internationales Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ der Ludwig-Maximilians-Universität München

Rom, 27. - 28. März 2014

Martin Baumeister, der Leiter des Deutschen Historischen Instituts (DHI) in Rom, verwies in seinen Begrüßungsworten auf einen glücklichen Umstand: Die vom DHI Rom und dem Internationalen Graduiertenkolleg veranstaltete Konferenz „Strukturelle Bedingungen und Konfliktfelder religiöser Vergemeinschaftung" vereinigte Ort und Thema – Rom, die Ewige Stadt, mit Diskussionen über Religion, Gesellschaft und Moderne. Zudem wurde jungen, in der Fachwelt noch kaum bekannten Forschern die Möglichkeit gegeben, zusammen mit bekannten Fachvertretern vorzutragen.

Die Vorträge der ersten Sektion befassten sich mit dem Thema „Religion und Nation". Den Auftakt machte PHILIPP LENHARD mit einer Darstellung seines Forschungsprojektes zur „Neuformulierung jüdischer Ethnizität im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert". Er stellte die These auf, dass sowohl „Nation" als auch „Religion" in der Moderne „radikal neu definiert" werden. Dies könne sehr gut am Judentum, wo Religiosität und Ethnizität in der Vormoderne in Eins fallen, studiert werden. ELENA MAZZINI aus Rom befasste sich mit der Geschichte der Konversionen und der jüdisch-katholischen Mischehen im faschistischen Italien zur Zeit der rassistischen Gesetzgebung der Jahre 1938-1939. Die im Archiv des Vatikans befindlichen Quellen boten zum einen Ego-Dokumente (so beispielsweise Briefe und Bittschriften an den Heiligen Stuhl) und zum anderen Dokumente des Vatikans, die Antworten auf Schreiben jüdischer Christen geben. Es folgte ein Beitrag von PASCALE MANNERT aus München zum Thema "evangelische Polen und die Jungdeutsche Partei", der in seiner Stoßrichtung einen Gegenentwurf zur Gleichsetzung von „deutsch" und „evangelisch" darstellte. MAREK VLHA aus Prag analysierte in seinem Vortrag aus einer komparatistischen Perspektive heraus die religiöse Situation der tschechischen Emigrantenzirkel, die sich im 19. Jahrhundert über ganz Europa verteilten. Die Lebensbedingungen und der Umgang mit dem eigenen Glauben waren recht heterogen. So siedelten etwa an der preußischen Grenze autochthone Glaubensgemeinschaften, während im Russländischen Reich Massenkonversionen zu beobachten waren. nach oben

Die zweite Sektion trug den in den Geisteswissenschaften der letzten Jahre populären Titel „Religion und Politik". Eröffnet wurde diese von JOHANNES GLEIXNER aus München mit einem Vortrag zum Thema „Sowjetmacht und ihre bürgerliche Religion". Am Beispiel der bislang wenig erforschten „religiösen Dispute" der 20er Jahre verdeutlichte Gleixner die seltsame Rolle, die der – von überzeugten Atheisten geführte – Staat zwischen den antireligiösen Kräften, die zugleich Repräsentanten des Staates waren, und den religiösen, nichtstaatlichen Kräften verfolgte. Außerdem wurde deutlich, wie weit der Staat zu dieser Zeit noch von einer eindeutigen politischen Ausrichtung in Bezug auf die religiösen Akteure entfernt war. HELÉNA TÓTH aus Bamberg referierte über „Expertennetzwerke und die Entstehung der 'sozialistischen Lebensweise' in Mitteleuropa". In ihrem Beitrag wurde die Frage der Relevanz des sowjetischen Beispiels für das sozialistische Europa ab dem Ende der 1950er Jahre behandelt. Die Analyse basierte auf einer ländervergleichenden Perspektive, die Einsichten in eine „breitere, transnationale Dynamik" ermöglichte. Tóth kam zum Ergebnis, dass in Fragen der Säkularisierung der Übergangsriten nicht die Sowjetunion, sondern die Tschechoslowakei als Vorbild diente. Auch wenn die atheistischen Projekte in ein breiteres sozialistisches Narrativ eingebettet waren, griffen diese auch lokale Traditionen auf. Anschließend diskutierte KATHERINA EBNER aus München anhand von britischen Debatten der 1950er und frühen 1960er Jahre über die Legalisierung homosexueller Handlungen zwischen Erwachsenen das Verhältnis von Religion und Politik im Vereinigten Königreich. In dem Bestreben einer Entkopplung von „Sünde" und „Straftat" sowie dem Aufkommen neuer wissenschaftlicher Sichtweisen auf Homosexualität sah Ebner den Hauptgrund für die allmähliche Veränderung der öffentlichen und innerkirchlichen Beurteilung von Homosexualität. JAN RANDÁK aus Prag sprach über die „Rolle der religiösen Sprache und Metaphern in der böhmischen Revolution" von 1848/49, mit deren Hilfe Religion und Politik verschmelzen und profane Dinge, wie etwa die Konstitution, eine Aura des Außergewöhnlichen erwerben konnten. Randák plädierte in erster Linie dafür, den funktionalen Aspekt religiöser Sprache und ihre Rolle als Übersetzungsmedium säkularer Inhalte zu betonen.

Die dritte Sektion war dem Thema „Religion und Land" gewidmet. Im Zentrum der beiden Vorträge standen Laien, wie Dietlind Hüchtker (Leipzig) im Anschluss bemerkte. HEINER GRUNERT aus München untersuchte auf der Basis von vier Leitfragen sowie ausgehend von Konzepten der ‘Vergesellschaftung‘ und ‘Vergemeinschaftung‘ den „Religiösen Wandel unter Serbisch-Orthodoxen der Herzegowina“ im Imperium Österreich-Ungarn (1880 bis 1914/18) und im Nationalstaat des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen. Betont wurde dabei die wichtige Rolle des Staates für das religiöse Leben. Der Vortrag seines Münchner Kollegen HEIKO SCHMIDT befasste sich mit den „Altgläubigen am Peipussee“. Dabei wurde die in der Zarenzeit weitverbreitete Annahme widerlegt, dass Altgläubige eine regionsübergreifende Protestbewegung darstellen könnten. Vielmehr müsse angenommen werden, dass der soziale Protest auf lokaler Ebene verblieb, auch wenn sich Kontakte zwischen Altgläubigen verschiedener Dörfer und entfernter Städte belegen lassen. Eine Nachfrage an den Referenten ergab zudem, dass der soziale Protest nach der Liberalisierung der Religionsgesetze im Zarenreich deutlich schwächer geworden sei. nach oben

Die nachfolgenden Vorträge änderten den Fokus vom östlichen auf das westliche Christentum. CAROLA FRANSON aus München analysierte in ihrem Vortrag die Situation deutscher Pastoren in estnischen Dörfern in den Jahren 1918 bis 1939. Sie kam zum Ergebnis, dass selbst nach der estnischen Unabhängigkeit und einer Reihe national aufgeladener Konflikte verschiedene Fallbeispiele für eine enge Verbundenheit vieler deutscher Pastoren mit ihren Gemeinden sprechen. EVELINE BOUWERS aus Mainz untersuchte in ihrem Beitrag die Situation der ländlichen Gesellschaft, die zwischen den Fronten einer ultramontanen Kirche und eines streitbaren liberalen Staat zu geraten drohte. Hinter dem lokalen Ringen um kirchlich-politische Hegemonie in der Zeit zwischen 1867 und 1872 sah Bouwers einen Kampf um „sozial-politische Machtverhältnisse und Ideen kultureller Ordnung", wobei sie die oft unterbewertete Rolle von Gewalt(fantasien) bei der Austragung dieser Konflikte hervorhob.

Zum Abendvortrag war der bekannte Wissenschaftler RUDOLF SCHLÖGL aus Konstanz geladen. Er führte seine Zuhörer in einem dicht komponierten Vortrag durch 100 Jahre europäischer Umbruchsgeschichte, die im Folgenden stark verkürzt zusammengefasst werden soll. Die ersten einschneidenden Veränderungen kamen für das (west-) europäische Christentum mit der französischen Revolution sowie den Säkularisationen und bedeuteten das Ende einer „symbiotischen Konkurrenz" von Kirche und Staat. Die Kirchen verloren nicht nur ihre Besitztümer, sondern auch ihre Herrschaftsrechte. In dieser Situation wurde die Mitgliedschaft in der Kirche zu einem persönlichen Anliegen und Religion zu einer sozialen Bewegung, die mediale Präsenz zeigte. Gleichzeitig habe Religion in den liberal-bürgerlichen Gesellschaften ihr gesellschaftsumfassendes Exklusions- und Inklusionspotenzial verloren. Das Christentum reagierte auf den zu beobachtenden Säkularisierungsprozess und veränderte sich zusammen mit der neuen Gesellschaft. nach oben

Der zweite Konferenztag begann mit einem Vortrag von MARTINA NIEDHAMMER aus München im Rahmen der vierten Sektion „Religion und Stadt". Im Mittelpunkt stand eine Analyse des religiösen Selbstverständnisses des jüdischen Großbürgertums in Prag um 1840. Dies stellte sie am Beispiel des jüdischen Großhändlers Simon Lämel, dessen „uneindeutige Position zwischen Tradition und Reform" zu dieser Zeit keine Seltenheit war, dar. Im Anschluss sprach INKA LE-HUU aus Hamburg, ausgehend vom Konzept des bürgerlichen Wertehimmels von Hoffmann/Hettling, über gemeinsame soziale Praktiken in Vereinen der Hamburger Juden und Christen des 19. Jahrhunderts. Fortgesetzt wurde die Sektion mit einer Analyse der religiös-politischen Vergemeinschaftung im Krakau der Jahre 1867 bis 1918 von KATHRIN LINNEMANN aus München. Sie sprach darüber, wie bei großen politischen Beisetzungsfeiern in Krakau, sowohl Bezugs- und Lebensort einer großen katholischen als auch einer jüdischen Gemeinde, Konfliktfelder zum Vorschein kamen und säkulare und religiöse Ansprüche immer wieder neu ausgehandelt werden mussten. Im Anschluss analysierte MORITZ BUCHNER aus Berlin am Beispiel einer Lithographie aus dem Jahre 1874 die italienische liberal-bürgerliche Sichtweise der „ländlich-religiösen Trauerpraktiken". Sowohl der Umgang mit dem Tod, der offene Transport des Leichnams, die Dekoration der Bahre als auch die lauten Gebete und Klagen der Trauernden verstießen gegen die Werte der Mittel- und Oberschicht. Aus ihrer Perspektive galt die Landbevölkerung als unzivilisiert und rückständig. Buchner legte nahe, den Grund für die Ablehnung bestimmter katholischer Trauerpraktiken vor allem in der Sorge um die soziale Ordnung zu sehen.

Es folgte ein Vortrag von FELIX WESTRUP aus München über die deutschsprachigen Diskussionen um Religion und Psychologie um 1900. In einem ersten Schritt zeichnete Westrup den veränderten Wis-senschaftsbegriff (seit der Mitte des 19. Jh.) nach, der als grundsätzliche Determinante der Auseinandersetzung gelten könne, um in einem zwei-ten Schritt zu den spezifischen Gründen des gegenseitigen Interesses zu kommen. GUDRUN NASSAUER aus München ging der Frage nach, wie sich das Verhältnis der Kirche zur wissenschaftlichen Bibelauslegung von der Antimodernisten-Enzyklika Pascendi Dominci Gregis (1907) bis zur Bibelenzyklika Divino Afflante Spiritu (1943) wandelte. Nassauer plädierte dafür, die Letztere exemplarisch als „Gegenstand eines über lange Zeit kontroversen, aber letztlich fruchtbaren Diskurses zwischen katholischem Lehramt und der modernen historischen Wissenschaft" zu sehen. THORSTEN MOOS aus Heidelberg untersuchte die Auseinander-setzung Ernst Troeltsch mit den Naturwissenschaften als einem Prob-lem der Religion und kam zum Ergebnis, dass die eigentliche Pointe der Troeltschen Apologetik in ihrer präzisen sozialen Verortung bestünde: Während die Kirche aufgrund ihrer institutionellen Verflechtung und ihrer traditionellen Elemente dem Druck moderner Wissenschaften standhalten könne, liege der eigentliche Ort der apologetischen Ausei-nandersetzung im „Individualismus der gebildeten Schichten". nach oben

Die Abschlussdiskussion zeigte nochmals, dass die immer noch anzutreffende Entgegensetzung vom „alten Glauben" und „neuer Welt" nicht substantiell ist. Neue, innovative Herangehensweisen müssen gefunden werden, um den Ambivalenzen der Moderne gerecht zu werden. Nach dem Ende des Programms wartete auf die Gäste der DHI ein interessanter Spaziergang durch Rom unter der Führung von Martin Baumeister, wofür der Verfasser dieses Berichts seinen nochmaligen Dank ausspricht.

Vitalij Fastovskij

Hier finden Sie den Tagungsbericht zum Download (PDF-Datei, 118 KB). Sie können den Bericht ebenso auf den Seiten von HSozuKult lesen.